Klemperer, Viktor
Wir aßen dann zeitig in der Bierstube – Mayer hatte einen Ruhetag –, u. so fanden wir nirgends Anschluß an den Heeresbericht.
Auf der letzten Wegstrecke hatte es gestern nach immer stärkerer Einwölkung ein bißchen geregnet; heute herrschte den ganzen Vormittag dichter nasser Nebel; später gab er den Ort frei, hält aber selbst die nächste Umgebung fest verschlossen. Wir haben seit zwei Uhr Apotheke u. warmes Privatcontor für uns – die Apotheke hat jeden zweiten Mittwoch Nachm. Ruhe –, so läßt sich s leben. Freilich war der Genuß bisher durch eine staunenswerte Schweinerei beeinflußt: Entleerung der Jauchengrube (Falkenstein hat keine Canalisation!) u. zwar ohne Schlauchlegung; zwei Männer tragen in offenen Eimern die dicke Jauche stundenlang durch den Hausflur vom Hof zum Wagen, die Eimer schwappen, der Flur ist naß, an den Schuhen trägt man mindestens den Gestank in die Räume, es ist eine lang anhaltende Pestilenz. – Wir waren zum Mittag aus, nachher um 3 h, zum Kaffee im Hôtel Pohlandt. Den Heeresbericht haben wir noch nicht erwischt. Wir wollen heute Abend zur Bierstube u. zu Mayer, um nur ohne allzuviel Brodverzehr einigermaßen sattzuwerden; wir hoffen bei Mayer um 8 h. endlich das Radio zu hören. –
Im Schaufenster des Falkensteiner Anzeigers hängt steht neben der Deutschlandkarte das Bild eines hübschen Fachwerk-Dorfhauses; darunter dieser Ausspruch * Alfred Rosenbergs (aus dem Gedächtnis[,] aber fast wörtlich citiert): Ein altdeutsches Bauernhaus enthält mehr geistige Freiheit u. schöpferische Kraft als alle Wolkenkratzerstädte u. Wellblechbuden zusamengenommen. Wieso?? Mit welchem Recht. Dorfhaus ist ein Anfang, Wolkenkratzer eine Fortentwicklung. Wieso gerade das deutsche Dorfhaus? – Hier ist die ganze Hybris des Natsoc. zusamengefaßt .. Die Karwoche des Herrn * Hitler tut not.
– Ich habe heute Nachm. den Maurizius zuende vorgelesen. –
Wo fängt die Schuld an? Gestern zeigte uns * Sch. seine Karnickelzucht in einem Schuppen hinter dem Haus. Uns u. einem Bekannten, einem Dr. Sowieso, den ich für einen Arzt hielt, der im Aussehen u. Wesen Ähnlichkeit mit * Dressel hatte, u. der in einigen komischen u. lachend vorgebrachten Bemerkungen – z.B. belgische Karnickel? Die werden wir bald den Belgiern abliefern müsssen![] – geringste Siegeszuversicht zeigte. Nachher erzählte Sch. von ihm. Er ist im Frieden Rechtsanwalt u. jetzt macht er als Kriegsgerichtsrat den Richter. Was soll er tun? Er muß. Aber von seiner Frau sagte er: ‹ Das du Elfriede glaubt noch immer an den Sieg. Wozu soll ich das dumme Luder aufklären? Sie wird es schon merken.›
21 h. Der heutige Heeresbericht enttäuscht mich trotz der Straßenkämpfe in Frankfurt a/M: die Front am Niederrhein hält, also kann von einem Debâcle 1 noch nicht die Rede sein. Was tun wir am Donnerstag Dienstag?
Donnerstag 29. März 45 Falkenstein
Morgens . Nun sind schon volle 48 Stunden ohne Alarm vergangen. Gestern sagte jemand, ich glaube: die Wirtin der Bay. Bierstube, beim letzten Angriff auf Plauen sei endlich die Vomag gänzlich vernichtet worden, sie eben sei das gesuchte Panzerwerk gewesen, u. damit sei also Plauen erledigt. Wir müssen abwarten, ob das für uns hier dauernde Ruhe bedeutet.
Der Druck der Lage lastet seit gestern Abend wieder schwer auf der Seele. Zwei, jetzt sind es gar zwei Lehrlinginnen aus Dresden geworden, die am Dienstag hier beginnen, u. vor denen wir fortmüssen – wohin? Ich setze, was ich über Tag an Notizzeit aufbringe, an die
Zweite * Mauriziusnotiz
Ich war früher ein paarmal, ich weiß nicht mehr genau bei welchen Sachen, bestimmt bei drei düster symbolistischen Novellen: Die Schwestern, 2 wohl auch bei dem Goldenen Spiegel, 3 der viele Jahre in meiner Bibliothek stand u. an den ich absolut keine Erinnerung habe, ich war jedenfalls vor Wassermann immer zurückgewichen, ich hätte in den letzten Jahren nur sehr gern sein Opus Mein Weg als Deutscher u. Jude 4 gelesen, aber das war unauftreibbar. Nun hat mich sein Maurizius wiederholt ungemein gepackt, der Mann ist bestimmt groß, u. ich muß mehr von ihm lesen – aber doch auf weite Strecken kalt gelassen, mehrfach irritiert u. etliche Male angewidert u. abgestoßen.
Das wenigste sagt mir der Fall Maurizius an sich, die eigentliche Kriminalhandlung, der nach achtzehn Jahren aufgdeckte Justizmord. Es soll ein genereller Fall sein: .. einer zeugt immer für eine ganze Schar. So wie der Sträfling Maurizius
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