Klemperer, Viktor
es entschuldigt auch die Schäbigkeit der Kleidung. ( Wir sind flüchtig aus Landsberg, * E. ist Königsbergerin, wir sind dann , aus L. komend, in den Dresdener 13. Februar hineingeraten, hierauf in die Wendei gegangen u. von dort vor den Russen evakuiert worden). Bisweilen erzählen uns die Leute auch ähnliche Schicksale ihrer Angehörigen in anderen Städten oder recitieren aus deren Briefen. Der Schluß ist immer: Überall das Gleiche – wann komt das Ende? Aber nie ein Wort der Auflehnung. Gestern sprach uns vor der Bierstube auf offener Straße spontan ein Graukopf an: Ich bin aus Memel, ich habe mein letztes Hemd auf dem Schiff verloren (beim Abtransport offenbar) ... jetzt sind die Russen schon in Küstrin ... was soll nur werden? Ich sagte: man muß es dem Schicksal überlassen .. Alles Gute! u. wir gingen weiter. Sodann wird in den Lokalen vom Eßmangel gesprochen. Ein anderes als diese beiden Themen hört man nicht. Weiter ist allen Lokalen gemeinsam das Vorhandensein u. Nichtexistentsein des Radios. Entweder es ist so leise eingestellt, daß man es nicht verstehen kann, oder es ist überhaupt nicht eingestellt oder es geht nicht (i.e. 5 es ist entzwei), oder es wird vom Gespräch der Leute überlärmt, deren vollkomene Gleichgültigkeit ja die Hauptschuld an den vorgenannten Übeln trägt. Wir müssen immer darum bitten (u. bitten meist vergeblich darum), die Heeresnachrichten einzustellen. Erst Abends um 8 bei Mayer hören wir sie. Dort stellen sich übrigens mit uns immer ein paar Leute an den Apparat, der im ungeheizten, Abends außer Verkehr gesetzten großen Nebenzimmer angebracht ist. Von der Gleichheit der Lokale hebt sich Mayer (mit a ) durch seine Überfülle ab, Pohlandt durch seine schäbige Hôteleleganz. Es ist ein großes Hôtel xxx , zwei aneinanderstoßende Häuser füllend, aber außen ist der Bewurf vom Steinbau im Abbröckeln, u. innen wird die Eleganz nur durch einen schäbigen Kellner Kellner im Gegensatz zur sonstigen Bedienung durch Mädchen oder Wirt – repraesentiert – u. durch höhere Preise. Übrigens sind die Preise schon überall sehr hoch. Die besagten 4 Kartoffeln kosten bei Pohlandt 70 Pf., bei Mayer ebensoviel, aber da gibt es noch einen Teller Suppe dazu, im Preis einbegriffen. Ein Kännchen Kaffee kostet anderwärts 40 oder 50 Pf., bei Pohland 60 Pf. Das Miniaturmittagbrod kostet überall mit 50 g Fleisch 1 M, fleischlos, wobei aber dem fleischlos kein plus 6 an Kartoffeln oder Gemüse gegenübersteht, 90 Pf. (Aber die Kosten machen uns wenig Sorge. 1) wird das deutsche Geld doch wertlos, u. 2) will uns * Sch. 500 M. auf die Reise ins Nichts mitgeben, u. 3) haben wir 1 000 x größere Sorgen.) –
Die 45 Minuten Dunkelheit bei Mayer waren ganz amüsant. An einem Tisch spielten Stamgäste bei einer elektrischen Taschenlampe ihre letzte Runde – wir erinnerten uns: Streik 1920, bei solcher Beleuchtung unterschrieb ich den Athenaionvertrag 7 ! – dann gab es eine Taschenlampe mit gräulich quietschendem Dynamo; ihr Besitzer wanderte durchs Lokal u. leuchtete dem Mädchen zum Bierausschenken. Dann kam an unsern Tisch ein alter Eisenbahner mit Frau, im vom Osten flüchtig, jetzt hier im Dienst, die hatten ein Stückchen Kerze – u. dan bei alledem saß man warm u. trocken, u. dann kam das Licht wieder u. das Essen u. das Radio.
Der Heeresbericht war wieder beides: befriedigend u. entmutigend. Es geht mit Deutschland zuende, im Osten u. im Westen; Küstrin ist verloren (Kämpfe in der Altstadt), Marburg u. Gießen sind Kampfplätze .. Aber die nach Bayern zustoßenden Panzerspitzen sind bei Aschaffenburg abgeklemmt. Supergiù 1 : es geht nur langsam vorwärts, zu langsam für uns, für den drohenden Diensttag.
Als wir, etwa um ½ 9, nachhaus kamen, erwartete uns das allerpeinlichste Guaio. In der gesamten Apotheke – nur da, überall anders funktionierte das Licht, wahrscheinlich hier Kurzschluß – kein Strom. Es war greulich. Kein Licht, keine Kerze. Mit Streichhölzern Betten vom oberen Zimmer heruntergeholt. Kein Stückchen Kerze. Kein elektr. Ofen. Keine Schlußmahlzeit mehr, kein Vorlesen. Eine Qual, der Weg zum Abort .. Wir mußten uns schlafen legen – es war ein Kunststück, wie * E. im Dunkeln das Lager besorgte.
Und heute früh setzt sich das Unheil fort. Um ½ 10 soll Frl. Dumpies zum Dienst komen. Ich denke, sie wird für Reparatur via Scherner sorgen, denn die Apotheke muß ja Strom haben. Licht u. Kocher (da Gas fehlt), auch am Karfreitag. Aber
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