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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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ihnen im Stande wären, etwas zu leisten – aber als ganze Truppe? Unmöglich. Die Ansbacherin mit dem Säugling: ihr Mann zweimal schwer verwundet, jetzt Ausbilder der Hj. Kindermord! Man muß auf Schluß hoffen, bevor diese Kinder eingesetzt werden. Wie sieht Ihr Mann die Situation? Einzelne mögen ja noch glauben, aber wer nachdenkt, muß doch alles verloren geben. Das Heer ist in Auflösung, zu jeder Änderung der Lage ist es zu spät, es ist ein Verbrechen noch weiter zu kämpfen u. das Letzte zerstören zu lassen. Eine Weile war auch der civile (Heil-Hitler = )Lagerführer da, verzweifelnd über das nächste Quartier. Ich hörte immer wieder: es gibt keinen Rechtsstandpunkt mehr. Also auch er klagte über Auflösung. –
    Genau wie heute morgen bei der * Gruberin stand in der Stube ein Riesentrog mit Brodteig.
    Eine große Verlegenheit für uns ergab sich im Zusamenhang damit. Wir sind ohne alles Brod, der nächste Bäcker befindet sich in Kühbach, die Straße ist aufgelöst, alle Viertelstunde prasselt ein neuer Regensturz – von der Fliegergefahr ganz zu schweigen. Ein halbes Dutzendmal schon haben uns * Flamensbeck von sich aus ein Brod zugesagt. Und nun: sie sind selber in Bedrängnis, sie haben viel an die neuen Flüchtlinge u. Quartiersucher hergegeben, u. durch den Ansturm gestern hat sich ihr planmäßiges Backen um einen Tag verschoben. – Jetzt will uns die Gruberin momentan aushelfen, u. gegen 5 wollen wir die * Lehrerin aufsuchen. Vielleicht daß sie auch weiteren Rat weiß, d.h. jemanden kennt, der uns Lebensmittel (Brod, Butter, Wurst) aus Aichach od. Kühbach mitbringt. Und bei dieser Gelegenheit hoffen wir dann auch den Heeresbericht zu erwischen. Wen man hier fragt, der hat ihn nicht gehört – wenn es ein Soldat ist: seit 8 Tagen nicht gehört, jeder gibt immer nur in dieser Form Bescheid: Sie sollen bei Dillingen die Donau überschritten haben ... Sie sollen dicht vor Ingolstadt sein etc. etc. Mein sage tailleur 1 sagt: je ne demande à personne, d où proviennent ses nouvelles 2 .
     

 
    Dienstag Nachm. 24. April .
     
    Gestern Nachm. kam der alte * Tiroler aufgeregt, sie seien schon bei Gabelinz, 3 dem Flugplatz dicht vor Augsburg, u. bei Dillingen seien sie auf unzerstörter Brücke über die Donau gegangen. Und der Volkssturm, der sich bei * Flamensbeck (mit 2 m behaupten die * * Töchter u. die * Lehrerin, mit einem m sagt der Vater!) einfinden sollte, ist nur z. T. u. ohne Führer angetreten! – Danach bei der Lehrerin. Der Heeresbericht: die Russen vor Berlin, richtiger in Berlin an der Prenzlauer Allee abgeriegelt. * Der Führer in der Reichshauptstadt; die Parteigrößen stehen mit Maschinenpistolen zum Kampf bereit. – Wir sahen auch in der Ztg. den Tagesbefehl des Führers an die Ostfront. Bis zuletzt dieselben Züge der Sprache u. des Denkens. Maßlose Beschimpfung u. Verleumdung des Gegners. Der jüdisch-bolschewistische Todfeind ist zum letztenmal zum Angriff angetreten. (Doppeldeutigkeit des letzten Mals). Er will uns ausrotten. Während die alten Männer u. Kinder ermordet werden, werden Frauen u. Mädchen zu Kasernenhuren erniedrigt. Der Rest marschiert nach Sibirien. Aber wir haben alles vorausgesehen u. unser Heer durch zahllose neue Einheiten ergänzt. (Verlogener Superlativ). Aber Der Bolschewismus wird dieses Mal das alte Schicksal Asiens erleben, d.h. er muß u. wird vor der Hauptstadt des Deutschen Reiches verbluten. Nachher noch einmal, das deutsche Volk hoffe, daß durch Euren Fanatismus .. der bolschewistische Ansturm in einem Blutbad erstickt. Wieder die Vorspiegelung einer Möglichkeit des Sieges: Im Augenblick, in dem das Schicksal * den größten Kriegsverbrecher aller Zeiten 4 von dieser Erde genomen hat, wird sich die Wende dieses Krieges entscheiden. – Rhetorisch formuliert: []Berlin bleibt deutsch, Wien wird wieder deutsch, u. Europa wird niemals russisch. LTI – Im Lehrerhaus glaubt man nicht, daß sich H. wirklich in Berlin befinde. Er sei zu feig dazu. – * Frau Steiner schenkte uns ein halbes Brod, lieh * E zu dem für heute angesetzten Marsch nach Kühbach eine Regenhaut u. Gummi-Überstiefel. (E wollte diese feurigen Kohlen abmildern, indem sie heute einen Rucksack voll Tannennudeln den * Damen brachte, selbstgesamelte. Die Gabe wurde aber zurückgewiesen. Ich beschloß noch am Abend, heute allein nach Kühbach zu marschieren.
    Das war gut so, denn auf diese Weise habe ich den Weg von mir aus kennen gelernt, während ich in E.s Begleitung

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