Klemperer, Viktor
beiden * * Säuglinge, spielte u. knabberte an Schuh- u. Rockwerk ein junges Hundchen, wieder gab es die nahrhafteste Suppe, unendlichen Kartoffelsalat u. eine alte Henne, aber doch eine Henne, u. alles, wir auch nachher, aß sich satt, indem es die Hände gebrauchte (u. nachher an der Luft trocknen ließ), u. indem es die abgenagten Knochen neben sich auf den Holztisch legte; u. wieder summten die Verbände u. rollten ferne die Detonationen. Bei Tisch hieß es, sie seien noch vor Augsburg u. weit weg von hier. Aber nach Tisch kamen ein Bauer u. der Gastwirt * Wagner u. erzählten, Augsburg habe sich heute Nacht um ½ 3 ergeben, die Amerikaner seien schon in Aibling 3 u. dürften bald hier sein – wenn nur die Hj mit ihrer Panzerfaust keinen Unfug triebe, könnte alles ruhig ablaufen. Was nun wahr ist, wissen wir nicht. Während ich dies schreibe, gegen 15 h, schüttert das Haus von fernem Artilleriefeuer .. Bei Flamensbecks u. bei Asams Haus ist je ein Bunker gegraben worden; den bei Fl. s hat uns der junge Asam gestern mit berechtigtem Stolz gezeigt: 2 m tief, mit Brettern verschalt, mit Stämmen gedeckt u. abgestützt, die ausgeworfene Erde über der Decke. Dahin könnten wir uns notfalls flüchten .. In der Aichacher Gegend qualmte es gestern schwarz u. hoch – wohl ein getroffener Öltank. Man weiß nie, wo es im nächsten Augenblick herabstürzen, donnern, knattern wird. * E sagt, man sichert von Lichtung zu Lichtung wie ein gejagtes Tier. Ich selber drücke mich beim Schreiben oft von den Fenstern weg in die Mauer- u. Bankecke, wenn das Summen zu nahe dröhnt. – –
Ich las gestern zu Ende vor:
Werner * Bergengruen: Der Großtyrann u. das Gericht. Copyright 1935
Eine völlige Novelle: alles kreist um ein außerordentliches Geschehnis, alle Charaktere werden nur an diesem Geschehnis u. im Hinblick darauf geschildert. Ein völliger, complizierter Kriminalroman: Fra Agostino, der Gesandte des Großtyrannen von Cassano[,] ist in dessen unmittelbarer Nähe ermordet aufgefunden worden; wer ist der Täter? Und doch auch ein völliger Roman, denn die Charaktere vieler Menschen u. der Zustand einer ganzen Stadt werden entwickelt. Und der Roman ist zugleich eine Predigt: denn die Präambel, der das Buch in jeder Beziehung folgt, kündigt den Bericht an von den Versuchungen der Mächtigen u. von der Leichtverführbarkeit der Unmächtigen u. Bedrohten .. Und es soll davon auf eine solche Art berichtet werden, daß unser Glaube an die menschliche Vollkomenheit eine Einbuße erleidet erfahre. Vielleicht, daß an seine Stelle ein Glaube an des Menschen Unvollkomenheit tritt; denn in nichts anderem kann ja unsere Vollkomenheit bestehen als in eben diesem Glauben.
Bergengruen hat den Stil der Renaissance ganz in sich aufgenomen: überall kunstvolle (nicht gekünstelte) humanistische Perioden, würdig, feierlich, bewußt stilisierte wie bei * Macchiavelli, wie bei * Boccaccio. 1 Überall innerhalb dieser Sätze ein psychologisches u. moralisches Wühlen u. Grübeln. Seine Renaissancekenntnis u. Verwertung ist völlig umfassend: sie umgreift den Principe (Großtyrann), * Savonarola 2 (Sperone) u. Boccaccio (das Perlhühnchen, der Rettichkopf, Donna Mafelda).
Der Großtyrann hat seinen verräterischen Gesandten selber erdolcht. Er prüft die Ehrlichkeit u. den Mut seines Polizeiministers Nespoli, indem er von ihm unter Todesdrohung verlangt, den Fall zu klären. Nespoli stellt einen Indizienbeweis gegen eine Selbstmörderin zusamen; Vittoria, seine Geliebte, wird halbschuldig am Tode ihres Mannes u. läßt einen Zettel fälschen, auf dem er sich selber als den Mörder bezichtigt – Fälscher: der Rettichkopf; Diomede, der Sohn des Verstorbenen, reinster Idealist u. Anhänger einer absoluten Gerechtigkeit, verstrickt sich in Machenschaften, um die Vater Ehre des Vaters zu retten u. die Beschlagnahme des väterlichen Vermögens zu hindern – Bestechung des Perlhühnchens, einer gutmütigen Dirne, die andrerseits von der geistig senilen aber immer noch willensmächtigen Donna Mafelda zu gegensätzlichen Aussagen bestochen u. gezwungen wird. Don Luca, der kindliche alte Priester, läßt aus Furcht um sein persönliches Seelenheil die Ehre des toten Messer Confini ungerettet: er darf nicht das Beichtgeheimnis verletzen, er darf nicht sagen, daß Confini keinen Mord auf dem Gewissen hatte; Sperone, der Färber, klagt sich selber des Mordes an, um die Verwirrung u. moralische Zerrüttung, die allmählich von dieser
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