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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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hier Bevölkerung überrrollen , denn eine zwangsweise Evakuierung gibt es nicht mehr – wohin auch?) Man müsse immer noch auf eine günstige Wendung hoffen. Es klang sehr gedrückt.
    Heute morgen war der tailleur gesprächiger als sonst. Die Russen in den Faubourgs de Berlin, 2 die Amerikaner 30 km vor Berlin, Stuttgart genommen, les pointes des chars 3 kurz vor Ingolstadt, in ganz Deutschland, partout, 30 000 chars 4 ... Freilich, der Sonntag sei besonders favorable à la floraison des bruits, lundi ils tombent, 1 ce soir werde er mir Genaueres sagen können. Wir müßten aber sehr vorsichtig sein. Ich sagte ihm, er dürfe mein Zutrauen nicht täuschen, ich sei so guter Deutscher, wie er Franzose, aber gerade als Patriot hätte ich une haine terrible contre ce gouvernement. Et je ne voudrais pas perdre ma vie au dernier moment, je voudrais encore travailler pour une nouvelle Allemagne. 2 – Kaum hatte der Schneider mich u. sich gewarnt, in Gegenwart der andern zu conversieren, da riß ihn die Wut über das Kindermorden (über die Hj-Truppe) hin, u. in Anwesenheit der * Gruberin schalt er auf das sinnlose Verbrechen dieses Kindereinsatzes. Man habe sich gestern im Kreis seiner Kameraden darüber entsetzt. – Er sprach dann noch mit Sorge über unser (unseres, seines u. seiner Kameraden) Schicksal in der nächsten Zeit. Man wisse, daß der erste * Bürgermeister hier entschiedener Natsoc. sei u. Widerstand vorbereite. Ich sagte: il faudra se cacher dans les bois. 3 Er: nein , gerade in den Wäldern werde gekämpft werden. Ich, halb scherzhaft: Attendre et prier. 4 Er, sehr ernsthaft, wie er denn überhaupt fromer Katholik scheint: ja, man müsse auf die providence 5 vertrauen.
    Ich schrieb eine Zeile an * Voßler. Dabei fiel mir ein, daß seine Briefe an mich verbrannt sind. Und weiter der schon einmal von mir citierte Passus der * Buck. Sie läßt ihre Bildhauer-Heldin eine Masse Modellskizzen zeichnen, dann all diese Skizzen zerreißen u. die eingeprägte Gestalt der Negerin (des schwarzen Amerika) nunmehr frei aus ihrer Phantasie, frei, idealisiert u. so erst recht wahr, erstehen. So darf der Philologe nicht verfahren, er ist zum realistischen Wiedergeben, zum dokumentarischen Beleg verpflichtet. Aber wenn er nicht trotzdem in irgendeinem Augenblick von Skizze, Modell, Dokument, Material absieht u. den Philologen in sich beiseite schiebt oder überhöht u. von sich aus gestaltet – dann ist er kein wirklicher Philologe .. Ein Voßlerporträt bringe ich wohl auch ohne seine Briefe zustande. Aber schade bleibt es doch um sie. –
    Bei * Bergengruen spielt eine Rolle der Petschaft-Satz: Nil pluriformius amore. 6 Ich variiere: nil pluriformius populi voce. 7 –
    * E. liest meine Notizen u. corrigiert: Das Dachauer Schloß sei ein glatter Kasten, die Türme stünden in den Ecken der umschließenden Mauer, u. wir hätten nur zwei dieser Pyramiden gesehen, nicht vier. – Wie kome ich zu meinem Gedächtnisbild?? In welcher Zeitspanne bildet sich ein Irun 8 ? Cf. wie feu * Grete mit Bestimmtheit erklärte, von unserm Dölzschener Haus die Elbe gesehen zu haben. – Ferner ruft E. mir einen besonders krassen u. amüsanten Satz * Flamensbecks in seiner eigentlichen Form ins Gedächtnis zurück: Ich fürchte niemanden ; ich bin Nationalsocialist, aber ich habe noch nie jemandem etwas Böses getan . Auch er nimmt also ohne weiteres an, daß ein Natsoc. Böses tut.
    14 h . Zum erstenmal sah ich heute die Familie Flamensbeck bei gemeinsamer Mahlzeit: sie aßen alle, Mann, * Frau, beide * * Töchter, der kleine * Junge, jeder mit seinem Löffel aus einer in der Mitte stehenden riesigen (Wasch-)Schüssel dicken Griesbrei. Im übrigen bot die Stube das gleiche Bild wie Tags zuvor, überall auf Bank u. Sopha u. Stuhl Soldaten u. Flüchtlinge, Komen u. Gehen, zwei geräuschvolle Kinderwagen. Auch wir saßen auf der Bank u. warteten, bis die Reihe der nahrhaften Abfütterung an uns kam. Inzwischen u. nachher geplaudert u. zugehört. Neben mir ein hübscher junger Flugzeugführer mit EK I. Die Frau in Magdeburg, das die Amerikaner haben, seit Wochen ohne Nachricht von ihr. Sie haben schon bei Dillingen die Donau überschritten, wir können nichts machen. Flugzeuge haben wir genug, bessere als sie, schnellere, besser bewaffnete, wir würden sie herunterholen – – aber wir können nichts mehr machen, es fehlt an Sprit, an Munition, an allem. Über die Hitlerjungen zuckte er mitleidig die Achseln. Vielleicht daß einzelne von

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