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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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er habe immer geglaubt, aber jetzt glaube ich an nichts mehr. Friede müsse endlich gemacht werden, die jetzige Regierung müsse gehen. Ob ich für wahr hielte, daß wir alle deportiert würden? Ich redete ihm das auas, sagte, man peitsche durch Verhetzung zum Widerstand auf. Er stimmte völlig bei. – Wir gingen dann zum Radiohören ins Schulhaus. * * Beide Damen waren da, badeten gerade ihre * Kinder, ließen uns ein Weilchen mit dem Apparat allein, kamen dann zu uns, brachten einen unwahrscheinlich schönen echten Cognac – den ersten in meinem ganzen Leben, den ich mit Entzücken gerochen u. getrunken habe – stellten nach dem deutschen den Schweizer Sender ein u. unterhielten sich lange mit uns, während draußen ein krachendes Gewitter mit schweren Güssen tobte. Ich selber, vom Cognac u. der Heereslage beschwingt, hielt ein förmliches Colleg über die LTI. – Die Lage ist nun so, daß der gestern noch als vergeblich gemeldete russische Angriff die deutsche Ostfront an mehreren Stellen aufgerissen hat, u. daß die Russen bis Straußberg 1 u. Bernau vorgedrungen sind. Nach deutschem Bericht. Und nach Béromünster sind die Amerikaner von Chemnitz u. Plauen her schon im Sudetenland (Asch) u. schon bei oder in Hof. – Frau Steiner u. ihre Schwester hatten neulich schon gesagt: wir fürchten nur noch die deutschen Soldaten. Jetzt erzählten sie mit Angst, man erwarte hier 800-Leute. (Was aber noch nicht gewiß scheint: die Quartieranweisungen wechseln beinahe stündlich.) Der Ruf der Steiner-Haberl sei im Dorf bekannt, u. diewürden sich auch politisch betätigen. Andrerseits berichteten sie auch zu ihrem u. unserem Trost, die Stimmung der bisher im Dorf u. im Schulhaus untergebrachten Soldaten sei völlig defaitistisch: Sie sollten sie schimpfen hören! Wir wateten durch Pfützen u. Dunkelheit, aber angeregt, nachhause; während * E. lag, las ich noch ein bißchen vor. – Heute beim Frühstück in der Küche ein älterer verheirateter Soldat, reiner Berliner, in Schönwalde ansässig, Fahrer. Seine Äußerungen stimmten genau zu dem, was das Schulhaus erzählt hatte. Ich verstehe nicht, warum das Volk noch mitmacht. Ob die Soldaten wüßten, wie es stehe? – Die allermeisten! Einer muß schon ganz dumm sein, wenn er es nicht weiß ... Ich will sehen, ob aus dem Mann noch [mehr] herauszuholen ist. Ich bekam eine Cigarette aus seinem vollen Etui. Im geräumten Regensburg habe man dieser Tage alles bekomen, ohne Marken, ohne Bezugsscheine: Tabak, Wäsche, Uhren – es sei eben einfach alles wegegeben worden.
    Nach Tisch Gestern sagte die Lehrerin, als ich vom * Flamensbeck erzählte – sic u. wirklich sic, ich habe ihn gefragt, die Familie stammt aus Holland, also > Flamenbach –: Aber zu andern spricht er ganz anders! Also auch dieser Heilige hat Angst. Aber heute Mittag – Sonntag Mittagbrod: Omelettesuppe, Kartoffelsalat ad libitum u. richtiges Huhn! –, da konnte ich sanft u. eindringlich aufklärend wirken. Und ich fand so wohlvorbereiteten Boden. Der junge * Asam spricht es längst aus, u. der Vater Flamensbeck weiß es längst u. läßt es sich gern von mir bestätigen. Es, das ist alles, das verbrecherische Morden u. Hetzen, das ganze Sündenregister dieser Regierung, die fortmüsse. Ich bin sehr sanft, ich vermeide jede Anschuldigung, ich vermeide alle Worte der Humanität u. Frömigkeit. Nur immer: die Gegner machen im Frieden bessere Geschäfte als im Krieg, sie wollen uns gar nicht vernichten. Sie sind vom Krieg überrascht worden, sie wollen unsere kriegerische Regierung fortschaffen, etc. etc. Und immer: Aber Sie wissen, daß unser Gespräch den Kopf kostet, wenn ...
    Wir gingen durch kaltes Regenwetter zurück – Vormittags hatten wir nur ein Weilchen im Wald lesen können. Während * E. schläft u. ich hier schreiben wollte, saß lange plaudernd der Berliner neben mir. Vollkomen deprimiert, äußerster Gegner der Regierung. Wieviel Tage es noch dauern könne? Er ist in Basdorf, 17 km vom Alexanderplatz entfernt, zuhaus, er ist Tischlermeister, hat Frau u. Kind, führt einen großen Betrieb mit seinem Vater zusammen. Wer u. was von alledem lebt noch? Er hat so lange nichts gehört. Diese betrügerische, in allem betrügerische Regierung! Und so grausam. Ich weiß nicht, ob Sie wissen, wie man in Berlin mit den Juden umgegangen ist. Diese armen Menschen, sie waren doch wahrhaftig aus der Volksgemeinschaft ausgeschlossen. Ja, wenn man sie meinetwegen von den Staatsämtern ausgeschlossen

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