Klemperer, Viktor
schnell nach Norden zu rollen, in knapp anderthalb Stunden waren die 30 km. bis Schwandorf geschafft, wir waren in der Oberpfalz, im beginnenden Industriegebiet. Auf dem Markt erhielt ich amerik. Auskunft – ich operierte natürlich mit meiner Sendung –, dass an- derntags ein amerik. Auto uns mitnehmen würde, und die deutsche Polizei wies uns auf die Stadthalle als Gemeinschaftslager der Flüchtlinge und militärischen Heimkehrer. Es war ein wüstes und beschädigtes Haus, Hauptraum darin ein Festsaal mit Bühne – Erinnerung an Prenden 1 1905 od. 6! – viel Militär, wenig Civil, kleinstes Volk mit Kindern lagerte auf Matratzen, die Matratzen waren vergeben, es gab aber noch Stroh, und wir machten uns vergnügt ein Strohlager zwischen Soldaten zurecht. Es gab auch an schmierigen Tischen eine reichliche Suppe zu essen, und wir waren doppelt vergnügt. Wir untersuchten das weitläufige bombengeschädigte Gebäude. In einem Nebenraum war der Boden dicht bedeckt mit tausenden von Papp-Einlegesohlen (wir nahmen einige davon mit). Auf dem Hof schwelten in einem Bombentrichter stinkend russische Uniformstücke und Fetzen aller Art. Hier war also, schloss * E.[,] eine Schusterwerkstatt oder ähnliche Arbeitseinrichtung russischer Gefangener gewesen. Es gab ausserhalb des Saales auch eine Wasserleitung und Wascheinrichtung, etliche Soldaten rasierten sich da. Die Fenster des Saals waren zerbrochen, so fehlte es nicht an frischer Luft, und wir schliefen gut und romantisch – eine Weile ist so etwas romantisch, später in der Wiederholung nur noch dreckig und primitiv – unter unsern schier dreissig Jahre-Mänteln 2 .
Tag sieben also: Strecke Regensburg–Schwandorf, 50 km., Freitag 1. Juni.
Am Sonnabend, d. 2. Juni vor Fünf wach und zeitig zum Markt, wo sich in verschiedenen Gruppen je nach Fahrtziel Soldatengruppen sammelten. Wir stellten uns zu der nach Weiden strebenden, es war uns Tags zuvor bei den Amerikanern versichert worden, dass man uns mitnehme. Wir fanden dann einen der vielen Gasthöfe offen und bereit, uns einen Kaffee zu unserm Brod abzulassen. Gegen acht begannen amerik. Laster vorzufahren. Wir kamen auf dem für Weiden bestimmten unter, ich aber in sehr gequetschter und wenig blickfreier Stellung. Es ging bergauf, u. E., die beim Fahrer sass, schwärmte nachher von der Schönheit der durchfahrenen Strecke. Ich konnte wenig sehen und schlief bald ein, merkte bloss, dass wir hoch hinaufkamen und Weite um und unter uns hatten. [Wir] waren kaum 20 km. gefahren, da hielt der Wagen vor einem Berg bei einem hochgelegenen Ort: Nabburg a. d. Na[a]b. Alle aussteigen, das Auto fährt zurück, vielleicht (!!) kommt ein anderes[.] Man stand murrend an der Landstrasse, so machten sie es immer. Viele Soldaten nahmen sofort die Fusswanderung auf. Ich kletterte zur Stadt hinauf, die wir vorhin bereits z. T. durchfahren hatten, zeigte dem Civilpolizisten einen älteren (ungültigen) englischen Wisch, den er nicht lesen konnte, drang so bis zu einem Dolmetscher vor, der Mann war aus Köln, kannte den Musiker * Otto Kl. 3 und war sofort Feuer und Flamme. Ich erhielt eine Empfehlung an den Vorsteher eines benachbarten Flüchtlingslagers und einen Mann, der mich und * E. dorthin führte. Im Lager sah es nicht gut aus, es handelte sich um Civil, Frauen u Kinder dabei, das schlecht ernährt schon lange und ungeduldig auf Weitertransport wartete – woher? wohin? Ich weiss es nicht, im Allgemeinen hielt man ja in Bayern die Civilflüchtlinge noch fest, um Landstrasse und Transport für die ausländ. Arbeiter und die zurückzuführenden Soldaten freizuhaben –, und das nun in uns unberechtigte Vordringlinge sah. Auch der Lagerhalter war anfangs überreizt und wenig zugänglich. Erst als ich energisch wurde, erzwang er mir Platz auf einem vorfahrenden und bestürmten Camion, reichte mir auch noch ein Brod hinauf. Wieder fand E. beim Fahrer Unterkunft (als gebrechlich), wieder stand ich äusserst gequetscht unter böswilligen Nachbarn diesmal. Es war noch ziemlich früh am Vormittag. Wieder dauerte die Fahrt nicht lange: 6 km. vor Weiden, mitten auf der Landstrasse erneutes Ausladen bei vielem Schimpfen. Wir wanderten zur Stadt hinein, ich ging wieder auf die Commandantur, ich fand selbst mit Hilfe der Polizei, die mit einem Schluck Bier aushalf, keine Ess- und Trinkmöglichkeit, ich erhielt nach einer Stunde von der Kommandantur einen Civilpolizisten, der uns wieder zu einem umlagerten und umschimpften Auto und dort
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