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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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dass von Regensburg, genauer von der Station Walhalla aus schon Güterzüge nach Norden liefen. Mit der Hoffnung hierauf und sehr erleichtert legten wir uns im Krankenhaus schlafen, nachdem wir uns von der * * * * Familie verabschiedet hatten. R. selber brachte uns hinüber kümmerte sich auch noch am nächsten Morgen um uns, da freilich schon im weissen Mantel und von allen Seiten als Chef beansprucht, sodass [es] einen etwas abrupten Abschied gab. Das war Tag sechs, der Ruhetag in Regensburg, Do., 31. Mai.
     

 
    Mit Regensburg schliesst sehr deutlich der erste und eigentlich heroische Teil unserer Wanderung, in dem wir fast ausschließlich auf unsere Füsse angewiesen waren. Wir mussten auch noch in den weiteren zwei Dritteln der Reise sehr viel wandern, und bald schmerzten die allzuweiten und somit scheuernden Ritterlatschen kaum weniger, als es die im Krankenhaus zurückgelassenen Militärstiefel getan: aber von Regensburg an waren wir doch jeden Tag, und meist mit Glück, bemüht, eine gehörige Km.-Zahl im Zug oder auf Flüchtlingsautos hinter uns zu bringen. Noch ein ander[e]s gab diesem zweiten, bis Falkenstein reichenden Wanderteil sein besonderes Gepräge: von jetzt an nahmen wir nicht mehr den Pfarrer sondern die Flüchtlingsstelle des jeweiligen Ortes in Anspruch. Das Mass der Strapazen wurde dadurch kaum verringert, es verlagerte sich nur alles. Ich könnte auch formulieren: ich marschierte weniger, aber hungerte mehr. Oder: ich marschierte weniger, war aber auch schon viel ermüdeter als vordem. Das Gleiche galt fraglos auch von * E. Sie hielt sich stoischer, hatte aber die (winzigen) Vorteile der geringeren Gepäckbelastung und des Rauchens (von gesammelten, aus dem Dreck gesammelten Stummeln!) Die schwere Hitze bei Unmöglichkeit des Wäschewechselns quälte uns beide Tag für Tag (während wir jetzt Ende Juni fortgesetzt frieren.)
    Wir gingen am Morgen des Freitag, 1. Juni, durch die nicht allzu zerstörte enge Innenstadt und dann auf einer breiten auch von Fuhrwerk massenhaft benutz[t]en Pontonbrücke über den Strom. Sahen wir eine grosse zerstörte Steinbrücke ober- od. unterhalb unseres Übergangs? Ich weiss es nicht mehr. Aber dieses Bild: der grosse Strom, die tief darauf liegende Behelfsbrücke, das ständige Herüberfluten von Menschen und Wagen mit Stauung und Warten an den Brückenköpfen hat sich mir doch sehr (wie ein Stückchen 30jähriger Krieg) eingeprägt. Dazu kam das Gefühl, vielleicht unberechtigt aber doch stark vorhanden, nunmehr die eigentliche Barriere zwischen mir und der Heimat überwunden zu haben. Links der Donau, das waren Wir – ich hätte nicht sagen können, was ich unter diesem WIR genauer empfand, aber ich fühlte mich eben mehr zuhause. N.B. Neuheit und Rückfall des Lebensgefühls: Wer hätte früher einen Strom als Barriere empfunden, wer irgend einen Abschnitt gefühlt, wenn der Schnellzug Hof–Regensburg–München ihn hier von X nach Y beförderte? Die Isolierung des Einzelnen, die Wiedereinsetzung der Ferne ist das eigentlich Neue und Tödliche der Gegenwart .. Wir kamen dann noch – geographisch blieb es mir unklar – über den kleineren Wasserlauf des Regens, auch hier war Brückenzerstörung und -Notbau, wir kamen nach etwa 5 km. zur Station Walhalla, ohne die Walhalla Walhalla selbst gesehen zu haben. Enttäuschung: Der Zug ging erst von Regenstauf ab, zehn km. weiter. So sind wir an diesem Tag doch wieder im Ganzen rund 20 km. marschiert. Landschaftlich ist mir von dem Marsch wenig im Gedächtnis geblieben, eigentlich nur die Eisenbahnschwellen: man muss sehr aufpassen, wenn man von Schwelle zu Schwelle steigt. Der Lustspiel- und * Jean Paul-Name eines Dorfes, wo wir zu Mittag eine Suppe bekamen, prägte sich mir ein: Wutzelhofen. 1 Verzeichnet habe ich noch ein Stück Pferdewagen. Regenstauf selbst, das wir nach 17 h erreichten, ist ein stattlicher Flecken: in ungefähr jedem Haus gab es einen Gasthof, und in keinem Gasthof auch nur einen Schluck Kaffee. Wir mussten durch den Ort bis zum []lleinstehenden Streckenhaus 7. Hier am Bahndamm und dichtbei an Wegrand und Wiese entwickelte sich ein Lagerleben wie seinerzeit in Suchering. 2 An der Pumpe des Streckenhäuschens konnte ich unser Wasserglas füllen, so hielten wir im Gras Mahlzeit und warteten auf den Zug, den ersten für uns seit dem Kriegsende. Er kam um halb nach Sechs: ein Pack-und zwei offene Güterwagen. Wir fanden Platz in dem einen der Güterwagen, es war eine Seligkeit, nun sooo

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