Klemperer, Viktor
also an diesem fünften Wandertag, Mittwoch, 30. Mai, die Strecke Schierling–Regensburg 1 geschafft, und damit unser erstes Ziel erreicht.
Der sechste Tag war ganz von Regensburg ausgefüllt. Er begann peinlich. Wir machten bei Regen einen sehr langen und nüchternen Weg durch die Länge der Stadt ins Krankenhausviertel, Prüveningstr. 2 Wir fanden * Ritters Privathaus, jeder kannte es, und klingelten umsonst. Wir suchten eines der grossen Krankenhäuser auf, das als seines bezeichnet wurde. Schwestern und Oberin waren sehr freundlich, Herr Doctor aber war eben zu irgendeiner Sitzung fortgefahren. Man telephonierte mit seiner Wohnung, es liess sich keine Verbindung herstellen. Sehr abgekämpft und müde gingen wir noch einmal zur Villa. Diesmal hatten wir Glück: ein Herr öffnete, dem Aussehen nach unverkennbar ein * Bruder Ritters. Ein jüngerer, dachte ich, denn er glich gleichermaßen dem Ritterbild von 1919. Es war aber ein älterer Bruder, ausgebombter * Kinderarzt aus Köln. Mit ihm fanden wir sogleich Kontakt. Nach einer Weile kam ein junges Mädchen, älteste Tochter und brachte uns Tee. Eine Stunde später war dann Ritter selbst da, riesige Erscheinung, dicker und älter im Gesicht, aber die gleiche Herzlichkeit und warme Nähe wie anno dazumal. Seine * Frau und sein * Junge, erzählte er, waren in einem nahen Dorf untergebracht. Es gab noch einen kalten Moment, als unvermutet die (noch ziemlich junge) Frau doch auftauchte und uns erst etwas befremdet gegenüberstand, aber bald fand auch sie den Ton der Freundschaft. Es war noch irgendein dem Haus befreundeter und eben hier einquartierter Auslandingenieur und -Kaufmann zugegen. * Ritter sorgte sofort dafür, dass wir zur Nacht ein Zimmer in seinem Krankenhaus erhielten, wir waren den ganzen Tag über seine Gäste, wurden Mittags und Abends üppig fetiert 3 – das blosse am gutgedeckten Tisch-Sitzen war schon Erholung für uns – ich erhielt Schuhe (freilich N 46 statt 42) und Strümpfe und ein Stückchen Seife geschenkt, kurzum: wir wärmten uns innerlich und äußerlich durch. R. war ein hochangesehener saturierter Mann geworden, offenbar einer der leitenden Männer Regensburgs. Ihm unterstehen zwei Häuser, das Männer- und das Frauenhaus[], zusammen 700 Bettten. Er kam eben recht verärgert von einer Besprechung mit der amerik. Kommandantur, die ihm das eine Haus für Militärzwecke abnehmen wollte. Er hatte mit dem Bischof zusammen für die Civilbevölkerung plädiert, bisher vergeblich, trotz des von den Amerikanern respektierten geistlichen Beistandes. Er erwog jetzt eine ausführliche Eingabe, in der die Judenfreundlichkeit und antinazistische Haltung des katholischen Krankenhauses eine große Rolle spielte. Die Verbundenheit mit der Kirche und die eigene Katholizität hatten sich in Ritter seit damals noch verstärkt: das junge * Mädchen sprach mit Selbstverständlichkeit ein Tischgebet und bekreuzte sich ausholend weit. Aber auch die Anhänglichkeit an seinen Beruf war wohl noch gewachsen; abends, als er uns hinüberbrachte, zeigte er uns mit Stolz verschiedene Räume des Hauses und eine sehr ausführlich[e] Statistik der im letzten Jahr vorgenommenen Operationen ... Von den Amerikanern war er nicht sehr erbaut, sie hatten geplündert, und sie liessen es an der Brutalität des Siegers nicht sonderlich fehlen. Sie standen eben auch auf dem Standpunkt der Vergeltung. Über die Nazis urteilte er mit äusserster Härte. In seinem frommen Munde überraschte es mich, als er zu * Himmlers Selbtmord 4 erklärte, Cyankali wirke in ein paar Sekunden – das sei zu wenig gewesen für diesen Bluthund. Ich habe noch den anwesenden Auslandingenieur (von der AEG oder von der Siemensfirma) erwähnt. Er interessierte mich deshalb, weil er den Antisemitismus von 1919 sqq. 5 für commerziell begründet hielt: sie hätten in allen dominierenden Wirtschaftsstellungen gesessen, als er aus Indien nach Deutschland zurückgekommen sei. Ich notiere das, nicht weil ich es ohne weiteres glaube, sondern weil es mir den einen der vielen Wege andeutet, auf denen die * Hitlerei marschieren konnte.
Wir erfuhren im Hause * Ritter auch noch einmal Authentisches über den Fall des Dompredigers * Meyer. Ritter selber hatte telephonische Bitte als Redner aufzutreten abgelehnt, er fand auch, xxxxxxxx und das ist charakteristisch für ihn und die Kirche, dass sich der unglückliche Domprediger ein wenig zu weit vorgewagt[] habe.
Aufs bestimmteste wurde uns versichert,
Weitere Kostenlose Bücher