Klemperer, Viktor
hinaufschaffte, wir fuhren am frühen Nachmittag weiter, durch hübsche Gebirgsgegend, aber müde und skeptisch, und erreichten das Nest Windisch-Eschenbach. Noch einmal beschwörender Kampf mit der Kommandantur – immer der gleiche Spruch meinerseits, ich trat ein bisschen als * Kurier des Zaren 4 auf, und je weiter ich damit schon gekommen war, um so eher glaubte man mir – aber manchmal traf ich auch auf einen sturen amerik. Soldaten, mit dem ich mich nicht verständigen konnte, und der nicht anerkannte, was ich gerade an Empfehlungszetteln zur Hand hatte: es war immer bei jedem Wegabschnitt, und heute vervielfachten sich die Abschnitte, eine unsichere und nervenkostende Kampfhandlung, die Weiterreise zu erzwingen. Immerhin, es klappte noch einmal. Wir erhielten im nahen Gasthaus eine Abendsuppe, wir wurden wieder in ein menschenleeres Autor epresst, immer durch schönes Gebirgsland, zuletzt durch eine ganz von mächtigen Bäumen überwölbte Allee gefahren, bis zum Dorf Kreuth. 1 Im Wagen befanden sich Flüchtlinge aus der Tschechei: dort hat man mit begreiflicher Rachsucht, aber offenbar vielfach an Unschuldigen Vergeltung geübt, hat sie in Lagern hungern und arbeiten lassen, hat ihnen allen Besitz weggenommen, hat sie ausgeplündert nach Deutschland abgeschoben. Unter diesen Leuten herrschte vielfach noch die Hoffnung, die Amerikaner würden Krieg gegen Russland, und das zugunsten Deutschlands!, führen. Aber es gab doch auch schon Aufgeklärte, die sagten, DER Amerikaner wolle uns nicht helfen, wolle uns ganz klein und industrielos haben. Im allgemeinen freilich fürchtete man nur den Iwan (überall verbreiteter Soldatenausdruck). Ich trage den besonders komischen u sprachlich interessanten Ausdruck eines Bayern nach: * Hitler, der Jud, hat uns schön reingelegt. .. In Kreuth, Abend[,] Abgekämpftheit und Mattigkeit, gehe ich zum Bürgermeister, er weist mich mit bürgermeisterlichem Quartierzettel auf Lager und Essen lautend ins Gasthaus, das einem Fleischer gehört. Der Wirt und Fleischer, übellaunig und sehr grob: Meinen Sie, ich richte Ihnen einen Salon her? Im Saal auf Stroh können Sie schlafen, wenn Sie wollen, zu essen und zu trinken gebe ich Ihnen nichts, wir haben nichts mehr. – Es sei doch Anweisung des Bürgermeisters. – Der Bürgermeister kann mich! Er ist Bäcker, er soll Ihnen selber Brod geben. Ich liess * E. im Wirtshaus, lief selber zum Bürgermeister zurück, fand dort nur die Frau, hilflos von andern Flüchtlingen belagert. Der Ort sei überfüllt und kahlgegessen, ihr Mann unterwegs, um wenigstens alle Welt vor der Sperrstunde – ich glaube, die war hier schon auf 22 h. gerückt – von der Strasse zu schaffen. Ich pant[h]erte herum, bis der Bürgermeister zurückkam. Er sagte, er könne nicht helfen, der Gastwirt habe wirklich nichts mehr. Ich kehrte um zehn zurück, wir assen trockenes Brod, das uns der Bürgermeister gegeben und tranken Wasser dazu. E. hatte inzwischen einen Gartenpavillon entdeckt, in dem viel Gepäckstücke, aber nur ganz wenige Menschen lagen, dort schliefen wir, behelfsmässig wie in einem Wartesaal.
Das war Tag acht, Samstag, 2. Juni, einer der wüstesten und anstrengendsten trotz geringer Fussleistung, vielfach unterteilte Strecke Schwandorf–Kreuth, 2 ich weiss nicht wieviele Km. lang.
Sonntag, der neunte Wandertag brachte einen wunderschönen nur bei nüchternem Magen sehr anstrengenden Fussmarsch, 11 km. weit zur Station Wiesau. Wir brachen am allerfrühesten Morgen, lange vor sechs, auf, um die Hitze zu vermeiden, wir gingen richtige Mittelgebirgswege, wie sie Verschönerungsvereine den Touristen mit Markierungen (an unnützen Stellen, nie an nötigen) bezeichnen, mit Wald und Wiese und Ferneblick. Eine ganz eigentümliche und einmalige Bellezza war der Lupinendamm. Ein Damm führte über einen Waldteich, dessen versumpftes kleineres Zipfelstück von seiner ausgedehnten Fläche abschneidend, und zu beiden Seiten des Dammes blühten in dichten Reihen hohe Lupinen. (Aber waren sie gelb oder blau? Ich glaube blau, möchte es aber nicht mehr beschwören. Die gleiche Lupinenreihe überigens randete den gepflegten Waldweg schon ein grosses Stück vor dem Damm, und nachher noch eine ganze Weile. In Wiesau haben wir uns wohl gründlich restauriert. Notiz und deutliche Erinnerung setzen erst wieder auf dem Güterzug ein, der uns um Mittag nach Marktredwitz brachte. Dort wurde umgestiegen und nun erst einmal in dem neuen offenen Waggon bis vier Uhr
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