Klemperer, Viktor
auf Weiterfahrt gewartet. Dabei gab es ein komisches Intermezzo. Auf der gesamten Strecke Wiesau–Hof durfte nur und ausschliesslich Militär den Güterzug (Personenzüge gab es noch nicht) benutzen. Ich für meinen Teil hatte Ausweis und Empfehlung – aber doch auch nur fragwürdiger Natur – bei mir. Ich hätte mich jedenfalls auf Erklärung, Discussion, ev. Kampf einlasssen müssen, wenn Kontrolle kam. Und auf dem Bahnhof Marktredwitz kontrollierte ein übereifriger Capo wirklich. Es waren mehrere Civilisten, auch Frauen an Bord. Sie wurden von den hilfreichen Soldaten derart umstellt und unter Gepäck- und Kleidungsstücken verborgen, dass der Capo sie nicht bemerkte. Da duckten und tarnten wir beide uns denn auch ein bisschen und blieben ebenfalls ungesehen. Gegen Abend, etwa um reichlich 18 h., war der Zug in Oberkotzau, 6 km. vor Hof, und weitere Bahnverbindung gab es nun erst von Feilitzsch an, hinter Hof. Wir wanderten also bei grosser Hitze nach Hof. Man sah die Stadt im Gebirge vor sich liegen und sah sie auch wieder nicht. Denn es ist gar keine eigentliche oder zusammenhängende Stadt – ich habe ihren Kern nicht feststellen können. Sondern auf einzelnen Hochflächen oder in einzelnen Falten und Thälern liegen Siedlungen, Stadtteile, Industriewerke, lauter disjecta membra 3 .. Die Soldaten hatten Furcht gehabt vor der Passage[,] es sollte scharfe amerikanische Kontrolle geübt werden. Wirklich befand sich vor dem Stadtrand ein Lager für deutsches Militär, Baracken und Drahtzaun, und Posten hielten jeden kriegsmöglich Aussehenden an, Legitimation fordernd. Uns alte Leute liess man ohne Weiteres vorbei. Aber nachher beging ich einmal den Fehler, einen Posten nach einem Durchgang zu fragen: sofort war der Weg verboten, und wir mussten einen grossen Umweg machen. Es war 20 h gewesen, als wir an den Stadtrand kamen. Dort lag irgendwo der Vorort Moschendorf, in dem * Reineker, unser seltsamer bäurischer Hauswirt aus der Hohenstr. 1 seine Porzellanfabrik und Wohnung gehabt. Wir hätten uns nach ihm erkundigen sollen, wir erfuhren später, dass er noch immer dort hauste. Was hilft wir hätten? Wir wanderten drauflos und irrten in dem zusammenhanglosen Labyrinth umher. Auf der Polizei wussten sie wegen Beköstigung gar keinen Rat und wegen Unterkunft eigentlich auch keinen: ganz, ganz weit draussen sollte in einer beschädigten und stillgelegten Garnfabrik ein Flüchtlingslager sein. In einem Restaurant erhielten wir etwas Bier aber gar nichts zu essen, und die Ratschläge im Punkt des Übernachtens klangen auch nicht sehr bestimmt. Wir suchten nun, sehr müde und schon von der Sperrstunde bedrängt, eine nicht ganz so entfernte Schule auf. Dort war ein derartiges Flüchtlingsgewimmel, dass man uns nicht einmal in den Hof oder Garten vorm Hause hineinliess. Es blieb uns also nichts anderes übrig, als wirklich nach der Fabrik in der Leopoldstr, hoch oben und weit weit draussen zu schleichen, obwohl die Sperrstunde (hier halb zehn) fast schon da und meine Kraft wirklich zuende war (Die Füsse, das Gepäck)[.] Einen Augenblick war ich in Versuchung im Gebüsch an der Vorortstr oder in einem Güterwagen an einem Bahnübergang die Nacht zu verbringen. Dann endlichst war die Fabrik doch erreicht. Aber in dem Schlafsaal war ein solches Gewimmel und eine so grausige Luft – immer ärmstes Volk mit Säuglingen und Windeln, das haben wir in diesen Monaten 100mal schaudernd gerochen –, dass wir flüchteten. Der Saal lag ein paar Stufen hoch, unten beim Eingangstor vom grossen Hof aus, in dem es Waschgelegenheit gab, war ein Flur, in dem es etliche Matratzen gab. Dort betteten wir uns auf unter Kopfschütteln eines alten Fabrikwächters und etlicher Flüchtlingsfrauen, die un[s] teils für hochmütig, teils für verrückt hielten. Übrigens hatten uns die Leute aus selbst gekochtem Vorrat noch einen Becher kalten Kaffee geschenkt. Wir schliefen so in verschwitzten Kleidern, es war die dritte Nacht in Kleidern.
Das war der neunte Tag, Sonntag 3. Juni, Strecke Reuth–Hof, mit weiten Märschen am Anfang und Schluß des Tages.
Am zehnten Tag, Montag 4. Juni, wieder um 5 h begonnen, schöne Morgenfrühe, schöner Gebirgsblick – alles wäre schön gewesen, ohne die Müdigkeit und all das andere, was nun summiert auf uns lastete. So wurde aus der touristischen Sommerfreude sehr bald wieder das mühselige heisse, nüchterne und beladene Trotten, die Strapaze auf baum- und erbarmungsloser Hoch- und
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