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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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nach Möglichkeit * Ducros * Rousseau 1 geackert.
    Das Schreiben mit der Feder wird mir immer schwerer, die Hand ist unsicher, das Auge ermüdet. In der letzten Zeit half ich mir durch Briefe, von denen ich Copie nahm. Dies hier ist mein erster Versuch, das Tagebuch auf Maschine umzustellen.
     

 
    16. Mai, Sonnabend Nachmittag .
    Motorisierter Hochzeitstag: Gestern Abend, nach sehr langer Pause im Kino: um ¼ 9 hier fort, um ½ 9 am Freiberger Platz geparkt, eine Viertelstunde nach Schluss um ¼ 12 zu Haus. Es war ein grosser Genuss, und hier gab uns das Auto nun wirklich, was wir von ihm ersehnt haben. Und heute am Morgen mit dem Wagen allein Besorgungen in der Stadt erledigt – in der City bewege ich mich jetzt ganz frei – dann um ½ 12 mit * Eva nach Wilsdruff zur Baumschule, fast zwei Stunden dort, acht Nadelhölzer (drei Centner – 34 Mark) in den Wagen gepackt, und zurück, bisweilen schon mit 50 km. Das war hübsch und tröstlich, aber an * Harlan habe ich für Durchsehen und kleine Reparaturen dieser Tage 75 M. gezahlt, der Benzinverbrauch ist nach wie vor ein ungemeiner, mein Glaube an die dauernde Gesundheit des Wagens ein geringer, mein Zweifel am finanziellen Durchhalten ein sehr grosser. Um so grösser, als die Arbeit an Garage und – vor allem – Garagenzufahrt kein Ende nimmt: immer wieder muss Dreck abgefahren werden, immer weiter geht die Abendarbeit des * * Ehepaars Lange, ein alter Onkel der Frau ist jetzt als Tageserdarbeiter in Daueraction getreten – all das kostet, und auch die zweite und letzte Idunareserve ist nächstens aufgezehrt.
    B Stimmung des Hochzeitstages? Ich fühle mich alt, ich habe kein Zutraun zu meinem Herzen, ich glaube nicht, dass ich noch viel Zeit vor mir habe, ich glaube nicht, dass ich das Ende des dritten Reiches erlebe, und ich lasse mich doch ohne sonderliche Verzweiflung fatalistisch treiben und kann die Hoffnung nicht aufgeben. Evas starres Festhalten am Ausbau des Hauses ist mir eine Stütze. Wie ich den Druck, die Schmach, die Unsicherheit, die Verlassenheit ohne Eva aushalten sollte, ist mir unbegreiflich. Es geht wirklich immer böser zu. Gestern ein Abschiedsgruss von * Betty Klemperer aus Bremen (und * Felix war einer der ersten Ärzte, die das EK I erhielten, er hat die russische * Hindenburgoffensive mitgemacht, hat im Schützengraben verbunden); nun verlassen auch die Frauen unserer Familie Deutschland, und manchmal kommt mir mein Bleiben ehrlos vor – aber was soll ich draussen anfangen, der ich nicht einmal Sprachlehrer sein könnte? * Isakowitz, bei dem * Eva wieder viel zu tun hat (weitere Finanzverschlechterung), siedelt in ein paar Wochen nach London über; * * * * Köhlers, decentes et indecentes, lassen nichts mehr von sich hören: der Beamte darf nicht mit Juden und übelbeleumundeten Elementen verkehren. Die politische Aussenlage ist völlig wirr, aber sie bietet fraglos der Regierung * Hitler die grössten Chancen: das riesige deutsche Heer wird von jeder Partei gefürchtet und von jeder gebraucht: vielleicht wird das deutsche Geschäft mit England, vielleicht mit Italien gemacht werden, aber gemacht wird es sicherlich und zugunsten der gegenwärtigen Regierung. Und ich glaube durchaus nicht mehr, dass sie innerdeutsche Feinde hat. Die Mehrzahl des Volkes ist zufrieden, eine kleine Gruppe nimmt * H. als das geringste Übel hin, niemand will ihn wirklich lossein, alle sehen in ihm den aussenpolitischen Befreier, fürchten russische Zustände, wie ein Kind den schwarzen Mann fürchtet, halten es, soweit sie nicht ehrlich berauscht sind, für realpolitisch inopportun, sich um solcher Kleinigkeiten willen, wie der Unterdrückung bürgerlicher Freiheit, der Judenverfolgung, der Fälschung aller wissenschaftlichen Wahrheit, der systematischen Zerstörung aller Sittlichkeit, zu empören. Und alle haben Angst um ihr Brod, ihr Leben, alle sind so entsetzlich feige. (Darf ich es ihnen vorwerfen? Ich habe im letzten Amtsjahr auf * H. geschworen, ich bin im Lande geblieben – ich bin nicht besser als meine arischen Mitmenschen.)
    Die Arbeit am * Rousseau geht sehr langsam vorwärts: der Mann sc[h]läfert mich buchstäblich ein. Ich habe jetzt die beiden ersten Discours 1 durchgeackert und kann auf keine Weise verstehen, worin ihre Originalität liegt. So viele Phrasen, Oberflächlichkeiten[,] Widersprüche! Und nicht einmal die berühmte poetische oder oratorische Wucht und Leidenschaft kann ich entdecken: auf einen zündenden Satz kommen zehn

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