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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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gezogen und ohne Niveauschwankung, rechts und links Nadelwaldstreifen oder ganz freier Blick auf Wiesen, die tiefer liegen als die erhöhte Chaussee. Mit meinem Aufnehmen der durchfahrenen Landschaft ist es noch immer schlecht bestellt, die Strasse fesselt mich zu sehr. Immerhin die erste Wegstrecke: Klotzsche, Lausa, Königsbrück und eine Weile darüber hinaus, bot das gewohnte und immer schöne sächsische Bild: hüglige Strassen im Laubwald oder zwischen gewellten Acker- und Wiesenstreifen, grüne Berge in der Ferne (vor allem wieder einprägsam die Höhen bei Kamenz, zu denen wohl auch der Keulenberg gehört, der als letzte Ferne hier vor unserem Dielenfenster liegt). Und dann, etwa von Hoyerswerda an, das flache Land, die Niederung, bisweilen der Sand, die Nadelhölzer. All das nur im Überblick gesehen, flüchtig als Gesamteindruck aufgenommen. Bei Spremberg berührte es mich – Wissen und Phantasie, mein altes Thema! –, dass ein schmales grün umbuschtes Wasser die Spree war: Heimat.
    Ein paarmal sahen wir Gruppen radelnder Spreewälderinnen. Weite orangefarbene Röcke, cardinalrote Kopftücher. Auch wohl in anderer Farbe, aber jedesmal Kopftuch und Rock verschieden, jedesmal die (Dorf? = )Gruppe gleichartig. Auch hier hatte ich nur den allgemeinen Eindruck; genauerers Hinsehen brachte mich einmal bedenklich an den falschen Strassenrand. Die kleinen Städte Hoyerwerda und Spremberg gaben mir an sich gar nichts, physiognomielose Nester. Aber furchtbar predigten sie die uniforme Macht des Nationalsozialismus. Überall SA., marschierende, radelnde, Einzelne und Kolonnen, überall der Stürmer, irgendwo die Inschrift: Hier sind Juden unerwünscht. In H. war irgend ein Fest, die schmalen Strassen gestopft voll von marschierenden, radelnden, aufgestellten braunen Truppen und Haufen, Feuerwehrleute dirigierten die durchfahrenden Autos.
    In dem grösseren Kottbus (etliche 50 000 Einwohner) sind wir eine ganze Weile auf der Suche nach dem unseligen Kaffee umhergewandert. Ein grosser roter langgestreckter Klosterkirchenbau im Ordens- und Küstenstil, ein altes Stadtthor, schöne Parkanlagen, offenbar vor dem alten Mauerumkreis, grosse moderne Bauten, Krankenhaus und derartiges im modernen Waarenhausstil; aber die eigentliche Innenstadt mit Ausnahme jenes Klosters schien mir aus zwei langen üblichen Ladenstrassen zu bestehen, wie man sie in jeder Kleinstadt findet. Die Spree bekamen wir hier nicht zu Gesicht.
    Gegen elf hatten wir eine Tankstelle der Löbtauer Strasse verlassen, gegen drei fuhren wir nach der Mittagsrast aus Spremberg heraus, um ½ 4 kamen wir nach Kottbus und verliessen es um ½ 5. Dann bin ich fast pausenlos – einmal in Spremberg getankt, einmal bei Königsbrück fünf Minuten gehalten – in drei Stunden zurückgefahren.
    Zum grossen Benzinbedarf ist jetzt ein übermässiger Ölverbrauch gekommen, und wenn ich nicht an einer Tankstelle im Quantum oder Material betrogen worden bin, so besteht Gefahr eines Kolbenschadens. Das würde eine so grosse Reparatur bedeuten, dass sie unseren zerrütteten Finanzen den Rest gäbe. Armut kommt wirklich von der Povertät. Hätte ich nicht ein altes Auto kaufen müssen, so würde ich mich jetzt nicht an Reparaturen verbluten.
     

 
    Himmelfahrt, Donnerst. Vorm. 21. 5.
    Gestern (wie schon ein paarmal) der reine Taxichauffeur: Vorm. * E. zu einer Gärtnerei in Nausslitz gebracht, zur Bank am Bismarckplatz gefahren, zu E. zurück; Nachmittags * Annemarie Köhler aus Heidenau geholt, ich allein und also im Ort verfahren, ich allein und also bei der Rückfahrt in ununterbrochener Unterhaltung, dabei durch schwerste Sonnenblendung gehemmt; Abends mit E. Annemarie zur Bahn gebracht; bei dieser Ausfahrt in sehr ermüdetem Zustand wieder einmal die Stossstange am Gartenthor vorgebogen, eine Beetmauer beschädigt. Vom Bahnhof gleich zur Tankstelle und die Stange zurechtbiegen lassen, zu Haus bei der Scheinwerfereinstellung gleich von E. das Mäuerchen geflickt. Und heute wollen wir nach Rochlitz. Auto, Auto über alles, es hat uns furchtbar gepackt, d une passion dévorante 1 .
    Wir hatten von Annemarie fast drei Monate nichts gehört und sie schon verloren gegeben; schliesslich rief ich sie doch an, sie solle offen sagen, ob sie unter Verkehrsverbot stehe. Antwort: nein, es seien nur so viele Abhaltungen gewesen. Wir verabredeten dann den nächsten Tag, und hier war alles unverändert, die alte Vertrautheit, die alten medicinischen und politischen Gespräche, der

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