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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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gewundene, dunkle, schwerfällige. Und ebenso geht es mir mit dem Contrat social. Drei-, viermal am Vor[-] und Nachmittag muss ich mich aufs Sopha legen und schlafe sofort für etliche Minuten ein. Gott weiss, ob der zweite Band meines achtzehnten Jh. s jemals zustande kommt. Und ob es nicht vernünftiger wäre, ich versuchte wirklich einmal meine Vita zu schreiben. Es sind nun schon recht viele Jahre, dass ich das unternehmen möchte; manchmal glaube ich, es könnte ein gutes Buch werden; oft, besonders Morgens beim Rasieren geht mir dies und jenes durch den Kopf; dann wieder fürchte ich, es werde mir misslingen und nur nutzlos meine letzte Zeit aufzehren. Und so folge ich dem Trägheitsgesetz und wurstele an meiner Literaturgeschichte weiter, um die sich aber auch niemand kümmert, und die mir auch nichts einbringt.
    Vorgelesen habe ich in letzter Zeit: Zuerst von * Max René Hesse den Unzulänglichen Idealisten. 2 Das Buch enttäuschte mich so (und doppelt[)] nach dem grossen Arztroman, 3 dass ich nach dem ersten Drittel damit aufhörte. Es ist ein stagnierendes Buch: der Held, rein satirisch gesehen, eitler Phraseur, der seinen Kaufmannsposten in Südamerika aufgibt, um in Berlin eine politische Rolle zu spielen, ist auf all den vielen hundert Seiten die gleiche peinliche Karikatur. Und ich kann es gar nicht ausstehen, wenn man auf so billige Weise die Ideale des Liberalismus lächerlich macht. Dass einzelne Scenen und Charaktere interessant sind, versteht sich bei Hesse von selber. Mich störte auch der affektierte Stil. * Eva hat den ganzen Wälzer für sich gelesen.
    Zuzweit las ich mit vielem Interesse einen isländischen Roman vor: * Kristmann Gudmundsson: Morgen des Lebens. 4 Stellenweise balladische, bisweilen humorvolle, öfter pathetische und tragische Schilderungen aus einem wohl etliche Jahrzehnte zurückliegenden Island. Der Bauer, der zugleich Seemann (Fischer) ist, Stürme, Schiffbrüche, Heroismen. Liebeswirrnisse. Der dänische Kaufmann. Primitive Verhältnisse, Abgeschiedenheit, Aberglaube, Schnaps, Naturschilderung. Das Buch ist nicht gut componiert, eine Zeitlang gleitet das Interesse vom Helden Haldor auf die nächste Generation ab, aber es ist ein lebendiges und dichterisches Buch. – Jetzt wieder etwas Englisches: * Elizabeth Russell 1 : Vater –
    Gestern der Film (auf * Gustis Empfehlung aus Kopenhagen): Broadwaymelodie. 2 Ein ganz und gar amerikanischer Film, durchweg Steptanz und negroide Musik, entzückend. Die Handlung bleibt immer kenntlich, löst sich aber mehrfach in Tanzphantasie auf. Ein Schuss Sentimentalität – Der Revuedirektor in New-York und die Jugendfreundin aus Albany, die den Ruhm sucht, die er vor Hauptstadt und Theater schützen will, und die doch mit List sein Star wird (und natürlich seine Braut), dazu viel Komik, Revolverjournalist, Boxen, und Tanzen, Tanzen, Tanzen, Singen, Singen, immer Step und immer Niggersong, der Mann, der auf tausend Arten schnarcht, der Reporter in Frauenkleidung ...
     

 
    18. Mai: Fahrt nach Kottbus am Sonntag d. 17.
    Psychisch ist die gestrige Fahrt keine erfreuliche gewesen, aus mehreren Gründen. Ziemlich im Anfang kam geriet ich in eine prekäre Lage; ich überholte ein Auto, das seinerseits von einem Radlerschwarm nach links gedrängt wurde, und kam in bedenkliche Nähe der Bäume; * Eva rief ständig: Mehr rechts, ich in grosser Erregung rief (brüllte wohl auch), sie möge um Gotteswillen still sein; der böse Moment wurde gut überwunden, aber nun war E. schwer und nachhaltig gekränkt, und ich widerum meinte, sie hätte meiner Erregtheit einiges gutschreiben können. Dann kam für E. im Ratskeller von Spremberg statt des erhofften Aals ein schlechter Frass, und dann, als wir beide sehr erfrischungsbedürftig waren, in Kottbus eine degoutanteste Kaffeelurke. So sind wir sehr verstimmt heimgekommen.
    Technisch war es ein grosser Erfolg: ich hatte eine Tagesleistung von 218 km. (gegen 109 den Sonntag vorher), ich fuhr die Geschwindigkeit von 50 km. vollkommen sicher, ging ruhig mit 40 in die Curve, hielt gelegentlich, dies aber noch nicht ruhig und ohne Abweichen von der Geraden, 60 km.
    Die neue erreichte Geschwindigkeit führt zum Landschaftserlebnis: der Ebene. Zum erstenmal kam ich aus dem sächsischen Hügelland mit seinen ständigen Curven, den ewigen Strassenbuckeln, hinter denen die entgegenkommenden Wagen unsichtbar drohen, in das flache Land heraus. Die Strasse von Spremberg nach Kottbus! 22 km. wie mit dem Lineal

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