Klemperer, Viktor
wissenschaftlich überholt ihr Interesse behalten. Zum andern: es wird immer notwendiger, dass ich Geld verdiene. Ganz unvermittelt kam eine Nachtragsforderung: Grundsteuer der Gemeinde 1934–36: 42 Mark. Ich weiss kaum, wo das zusammenkratzen. Und immer wieder kommt so eine unerwartete Ausgabe und addiert sich zum übrigen. Ich getraue mich nicht mehr, weitere Fahrten mit dem Auto zu unternehmen; 10 L. Benzin, 3,60 M, sind eine übergrosse Ausgabe. Ich fragte * Ellen Wengler, die uns besuchte, ob sie die Hypothek auf das Haus erhöhen wolle, damit es sicher an sie falle, wenn nach der Olympiade 1 Ghettoisierung eingeführt werde: sie hat kein Geld frei.
Am 1. Juli machten wir mit * * W.s eine Fahrt, und dann assen sie bei uns zu Abend. Wir holten sie ab und fuhren durch das Müglitzthal nach Altenberg und Hirschsprung, wo in * * Dembers Landhäuschen die alte * Frau Riese 2 mit einem altgetreuen Mädchen lebt. Sie ist jetzt 81 Jahre hat vier Schlaganfälle hinter sich, sieht schlecht und ist doch voller körperlicher Beweglichkeit und von einer erstaunlichen Frische, Klarheit, Natürlichkeit und Lebhaftigkeit des Sprechens und Denkens. Von ihrer * Enkelin in Paris, von Ihrer * Tochter in Palaestina, von * Alexis Dember in Istanbul, der jetzt nach USA geht, von Berlin[,] von der Politik usw. usw. Wir kamen um [6] hin, fuhren um 7 zurück. Wunderschön liegt das Häuschen. In einem Wiesengrund, den Wald von der Welt isoliert, und über dem Wald steht ganz nah und scharf geformt der langrückige Geising mit seinem Fabrikschornstein 3 auf der Mitte des Rückens. Schöne Fahrt durch den Wald nach Kipsdorf. Von dort nach Haus Rekord: 49 Minuten (vorher erst 60, dann 55 Minuten.)
Jeden Tag schlafunterbrochenes und bedrücktes * Rousseaustudium, jeden Tag schwere Augenschmerzen. Einmal mit * E. in der Gartenausstellung.
Abends arbeitet E. sehr lange im Garten, so kommen wir wenig zum Vorlesen. * Panteleimon Romanow: Drei Paar Seidenstrümpfe. 4 Sehr gut und bitterlich interessant; denn was das von den Zuständen der russischen Sowjetrepublik berichtet wird, hat die stärksten Analogieen zu heutigen deutschen Zuständen. * Ellen Wengler sagte neulich: []Wenn die Regierung fällt – wird es dann anders bei uns? Vielleicht wohl etwas weniger verlogen – aber im übrigen? – Woran das Traurigste, das[s] jeder nur noch mit Extremregierungen rechnet. NSDAP oder Communismus – als läge nichts dazwischen.
8. Juli, Mittwoch.
Seit Tagen sehr schwere schwüle Hitze. Die Arbeit am * Rousseau schleicht noch langsamer als sonst[.] Emile-Notizen.
Am Sonntag Abend bei * * Wieghardts; wir sind viel zusammen, da es sich ja doch nur um einen Monat handelt.
Montag und Dienstag zwei kleinere Nachmittagsspazierfahrten. Langsam und mit Haltepausen. Um zu sehen und um Benzin zu sparen. Am Montag ein wirkliches Vergnügen: Possendorf, Kreischa, Lockwitz. Die ortsübliche schöne Landschaft. Am Dienstag Moritzburg weniger befriedigend. Das Sc[h]loss am See im Wald ist gewiss schön; aber man zahlt diese Schönheit zu hoch mit langer Stadtfahrt. Zurück über Klotzsche. Hier wirkt ein Stück gerade durch die Abwesenheit der üblichen Hügelreize; es ist nichts als flaches Land und Ebene mit Kornfeldern. Wir hielten mitten dazwischen. Über uns übten zwei Flugzeuge; das eine vollführte verwegene Loopings.
Nach langem Schweigen ein langer Brief von * * Blumenfelds aus Lima; ich beneide sie, und sie fühlen sich im Exil. Bei * Grete Bl.s Naturschilderungen und Reflexionen werde ich nie das Gefühl des Angelesenen los. Alles ist gebildetes Cliché, aber doch Cliché. Vielleicht tue ich ihr unrecht; wahrscheinlich könnte ich auch nicht anders berichten. Er, * Bl., fasst sich immer kurz und sachlich.
Ich gab heute Nachmittag sämtliche Bücher des romanischen Seminars zurück, zwei volle Mappen, die mir sehr fehlen [werden], und die nun nutzlos herumliegen. Das Sem. ist endgiltig aufgelöst, der * Papesch gekündigt. * Wengler scheint vorläufig im Amt zu bleiben, wohl wegen der politischen Wohlgefälligkeit Italiens. An meinem Direktorzimmer steht jetzt angemalt: Historisches Seminar. Das rom. Bibliothekszimmer nebenan trägt noch seine alte Inschrift, und hier fand ich Wengler und die Papesch. Der P. sagte ich: Sie werden das im Augenblick komisch finden; aber die Dinge können wechseln, und wenn ich noch einmal ins Amt komme, rufe ich Sie wieder. Auf solche Weise wahrte ich etwas tragikomisch meine Autorität. Es war keine
Weitere Kostenlose Bücher