Klemperer, Viktor
schlechte Ehen hinein, wo man so gern von einander loskäme – und wir haben uns so gut vertragen, und gerade wir ... Dabei hat der Mann offenbar ganz festen Christenglauben. Und ausserdem hat er Halt, Beschäftigung und Trost am überkommenen kleinbürgerlichen Brauch. – Was von einem Menschen haften bleibt. * Frau K., sonst etwas schüchtern, erzählte einmal mit dramatischer Lebendigkeit, wie ihr ein Kochtopf verschwunden sei, und wie sie ihn überall gesucht habe. Mir liegt der hohe Stimmklang und die unaffektiert und unkomisch leidenschaftliche Bew[e]gtheit des naiven Ausrufs: Mein Topf, mein Topf! seit Jahren fest im Gedächtnis und charakterisiert mir das ganze Wesen der Frau über ihren Tod hinaus. Dazu fügt sich ein zweiter Zug. * * * Die vier K.s waren bei uns zum Essen, und * Mutter K. hatte einen blauen Fleck unter dem Auge. []Es sieht aus[], sagte ich, []als hätten Sie eine ernstliche Prügelei mit Ihrem Mann gehabt. Sie merkte gar nicht, dass das ein Scherz war, nahm es aber auch nicht übel, sondern antwortete mit einer warmen Gewissenhaftigkeit, wie in der Beichte: Nein, das ist nie bei uns vorgekommen!
Sonntag, 28. Juni.
Am Donnerstag Abend hat sich * Isakowitz endgiltig von uns verabschiedet, sehr abgehetzt und aufgeregt – ein neues Tisc[h]tuch musste daran glauben, er goss mit grosser Armbewegung eine volle Tasse Kaffee darüber – aber doch in gehobener Stimmung. Weil er mit 45 Jahren noch einmal einen Anfang setzt, [ weil ]
weil er aus [K]nechtschaft und Rechtlosigkeit in menschliche und civilisierte Verhältnisse übersiedelt. Dabei wurde ihm der Abschied von Deutschland doch sichtlich schwer. Er philosophierte und aesthetisierte viel, mit geringer Bildung und Klarheit aber vielem Interesse und einem offenbaren moralischen Fond. Mit Vergnügen hörte ich, dass es ihm trotz aller Zollfahndung doch gelungen ist, etliches Vermögen ins Ausland zu retten, und dass auch andere Emigranten hierzu offenbar immer wieder Gelegenheit finden.
Die merkwürdigste Komik der gegenwärtigen politischen Situation besteht darin, dass Frankreich gerade jetzt von einem Juden regiert wird. Und dass * Blum 1 sich * Hitler gegenüber sehr höflich ausdrückt (nicht ohne sousentendus 2 ), und dass die deutsche Presse ihm gegenüber sehr höflich verfahren muss, und, seit er regiert, se[i]n Judentum verschweigt (während der Russe Litwinow 3 bei uns regelmässig * Litwinow-Finkelstein genannt wird).
Immer häufiger der Wunsch Erinnerungen zu schreiben, immer öfter taucht Einzelnes auf. Neulich an sehr heissem Tage wurde Onkel, der alte Arbeiter und Onkel der * Frau Lange, ungern erwartet; das Cementieren der Einfahrtswände ist ein ungeheure Strapaze für * E., und ein kühlerer Tag hätte besser gepasst. Um neun war Onkel noch nicht da. Vielleicht kommt er nicht – unten in der Stadt sieh[t] es sehr dunstig und wett[e]rdrohend aus. Um neun kam er doch, und es musste Cement im Wagen aus der Zwickauer Str. geholt werden, und E. musste sich wieder bis zum späten Abend abrackern, und es war eklig. Eine hundertfach wiederholte Empfindung meiner Schülerzeit, seit bald vierzig Jahren versunken, fasste mich im Bildrahmen der Schulbänke[,] des Katheders und – vor allem – der Türe. Um voll war man auf seinem Platz, in den Corridoren wurde es ruhig, dann hörte man die Einzelschritte der Lehrer, das Zuschlagen von benachbarten Klassenthüren. Unser Mann verzögerte sich; ich hatte nichts Gutes zu erwarten. Eine Minute, zwei, drei – vielleicht ist er krank, vielleicht kommt er nicht! Er ist immer gekommen. Und ich habe immer wieder diese Minute der Hoffnung und Enttäuschung durchgemacht. Meist vor Mathematikstunden. Ähnliche Gefühle vor dem Thermometer im Sommer. Wenn um zehn Uhr 25 Grad im Scha[t]ten erreicht waren, fiel der Unterricht um elf oder zwölf aus.
Die Oybiner Fahrt am vergangenen Sonntag, 21. 6.
Wir hatten um 12 den Wagen vor der Thür, da erschien * Lange, ob wir irgend eine Marmorsäule für fünf Mark kaufen wollten. Wir wollten nicht. Lange ist ein grosses Kind. Ob wir allein führen? ob wir nicht ihn und seine * Frau mitnehmen wollten, er zahle zwei Mark Benzin, er kenne den Weg, es sei heute sein Geburtstag. Natürlich mussten wir ihn mitnehmen, gleich telephonierte er seiner Frau: Mach Dich fein, wir machen mit Professors eine Tour. Dann mussten wir die Frau in der Kellstr. abholen, dann mussten wir [–] Bloss noch einen Augenblick, gar kein Umweg! zur * Mutter in
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