Klemperer, Viktor
Blasewitz, bei der wir heute Abend Kartoffelsalat bekommen sollen, und Sie müssen auch davon essen! Zu diesem gemeinsamen Salat ist es dann G. s. D. zu spät geworden. Im übrigen benahmen sich die Leute unterwegs zutunlich bescheiden und nicht störend, aber allein ist es doch weniger anstrengend. Wir hatten noch Aufenthalt durch marschierende braune Truppen und wanden uns erst nach eins aus der Stadt. Dann ist der Wagen ausgezeichnet gelaufen, ich bin sehr gut und sehr sicher gefahren, auch rasch, und es war ein grosser Genuss. Hin die Südstrecke Putzkau Oppach–Zittau. Ich kann nicht genau sagen, wo der landschaftlich neue Blick anfängt, aber er prägt sich sehr entschieden als neu ein. An die Stelle des sanften Gehügels, das für Sachsen charakteristisch ist, tritt eine grosse und weite Aussicht über gebreitetes Land auf ferne scharf gezeichnete ziemlich bedeutende Berge. Weit hinten in der Ebene dicht vor dem Gebirge liegt breit eine gross wirkende Stadt mit hohen Schornsteinen: Zittau. An den Orten, die man durchfährt, fallen die heruntergezogenen Schieferdeckungen der Mauer (an der Wetterseite) auf und, sprachlich, die Schilder Kretscham oder Kretscham-Hotel. Wir durchfuhren Zittau am Aussenrand und traten gleich darauf deutlich in das Gebirge ein. Nach ein paar Minuten schon die gepflegten Curvenwege des Kurorts Oybin. Wir stellten den Wagen – es war nicht einfach – in einen grossen runden Steinbruch, der zum Parkplatz umgebaut war, tranken in einem Gartenrestaurant Kaffee, und wurden dann von * * [L]anges zu einem weiteren Spaziergang animiert, als wir ihn allein gewagt hätten. Auf den Oybin. Der Berg und einige andere Berge erinnerten stark an die sächsische Schweiz, noch stärker an den Mon[t]serrat bei Barcelona. Felsbasteien, nacktes getürmtes Gestein zwischen Waldpartieen. Auf Viertelhöhe etwa eine ganz aus Holz gebaute Kirche, innen (zwei Galerieen, lang rechteckige Form, niedrig) mit vielen Malereien, jedes Bild ein kleines Viereck für sich. Durch Fels und Wald aufwärts zu sehr gewaltigen und schönen Burg- und Klosterresten. Mächtige Gewölbe, Spitzbögen riesiger Fenster. Im Innern ein moderner Kirchhof, unmittelbar daneben ein Restaurant, unter Felsblöcken ein tiefer Wassertümpel, daneben aufbewahrt die Flaschenkästen des Restaurants[,] von mehreren Mauerdurchbrüchen oder Fenstern ein grosser Blick auf die Ebene und Zittau – ähnlich wie man vo[m] Herzogstand in[ d ] die Ebene hinausblickt. Durch andere Luken sieht man in das Gebirge. Wir fuhren am späten Nachmittag zurück, diesmal die nördlichere Linie Herrnhut, Löbau, Bautzen. Bei Bischofswerda trafen wir dann auf die Zufahrtstrasse des Vormittags. Wir hatten diesmal den besseren Fahrweg, aber ich bekam die Sonne so scharf ins Gesicht, dass ich schwer gehemmt war und trotz der dunklen Schutzbrille Schmerzen ausstand. Von Landschaft und Orten konnte ich nichts in mich aufnehmen. Das schöne Stadtbild in Bautzen, das rote Gemäuer neben und unterhalb der grossen Brücke konnte ich kaum colla coda dell occhio streifen. Als wir Bautzen passiert hatten, ging die Sonne unter, und ich fühlte mich etwas freier. Ich dachte an die Fahrt, die ich vor etlichen Jahren mit dem Minister * Kaiser 1 gemacht hatte. Es war nach der Jubiläumsfeier des Bautzener Gymnasiums, wo ich für die Hochschule gesprochen hatte. Damals war ich ein beinahe grosses Tier und ein [M]ann in passablen und gesicherten Verhältnissen. Aber Autofahren konnte ich damals noch nicht. In Bischofswerda streifte ein Motorradfahrer von hinten unsere Stossstange, und seine Frau verletzte sich am Knöchel. Bei Bühlau began[n] mein Wagen zu rattern, gerade als ich einen ander[n] überholte; in eben diese[ n ]m Augenblick war ein Schlauch geplatzt. Er habe mit einem Unglück gerechnet, sagte ein Mann, der vom Strassengraben aus zugesehen hatte und nun zur Hilfeleistung herankam. * Lange wechselte das Rad aus, schneller als ich das gebracht hätte, aber es wäre besser gewesen hätte ich selber das machen müssen; denn einmal komme ich sicher in diese Notwendigkeit. Gegen zehn Uhr zuhaus, nach 230 Kilometern.
Am nächsten Tag ergab sich der völlige Tiefstand unseres Geldes. Drei Tage fuhr ich überhaupt nicht. Die Situation wurde katastrophal, als sich dann herausstellte, dass der Reifen ganz hinüber war.
Gestern haben wir nun doch notwendigerweise einen neuen Reifen gekauft [–] wird die fällige Rente eben nicht am 1. Juli, sondern zehn Tage später gezahlt
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