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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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ich das Kolleg. Ich habe mir ein paar halbverborgene oder offenkundige Kühnheiten in dieser Kulturkunde-Vorlesung geleistet, teils mit, teils wider Willen – es hätte mich die Professur kosten können. Am seltsamsten war mein Verhältnis zu * Eva Theißig, die an mir hängt, u. die Betriebszellen-Organisatorin oder so was, jedenfalls eine Persönlichkeit des neuen Régimes ist. Als sie sich von mir verabschiedete, um nach Freiburg zu gehen, gab ich ihr diesen Rat: Weniger Politik u. mehr Wissenschaft! Und liefern Sie sich dieser Sache nicht zu sehr aus. Die Ihrige ist die Wissenschaft – u. man kann auch nicht wissen, was politisch die Zukunft bringt. Sie verstehen mich – mein Rat gibt mich in Ihre Hand, ich meine es [mit] Ihnen gut. Sie bat, sich weiterhin von mir Rat holen zu dürfen. Ich glaube: sie u. tausend andere Anhänger u. Mitglieder der Partei sind längst enttäuscht. Ich glaube (oder hoffe ich es nur?) – es kann nicht mehr lange dauern. Welch eine Hysterie in allen Worten u. Taten der Regierung! Das ewige Androhen der Todesstrafe, das Festnehmen von Geiseln, neulich der Unterbruch alles Reiseverkehrs von 12–12 40 : Fahndung auf staatsfeindliche Kuriere u. Druckschriften in ganz Deutschland! Dazu die lächerlichen ständigen Artikel über die siegreiche Arbeitsschlacht in Ostpreußen (wo man natürlich während der Ernte ohne Arbeitslose ist), über das Aufhören der Boykottbewegung im Ausland, etc.
    Ich traf * Beste , den jetzigen Dekan, Nationalökonom, Katholik: es kann nicht dauern! Wir hatten * Frl. Mey 2 zum Abendbrod bei uns, die ganz Deutschnationale, die unter den kleinen Angestellten der T. H. u. bei den Professoren gleichermaßen Bescheid weiß: Unzufriedenheit, Angst überall. Nur überall die Frage: wer wird sie stürzen, was komt dann? – Die letzten Semestertage brachten der T. H. noch den Geßlerhut: Zwang zum Hitlergruß.
    Zwang nur innerhalb der Dienststelle. Bloß: Es wird erwartet, daß man den Gruß auch sonst anwende, um sich nicht dem Verdacht staatsfeindlicher Gesinnung auszusetzen! Bisher grüßten mich kleine Beamte u. Kollegen mit Kopfnicken wie sonst, u. ich erwiderte ebenso. Auf Kanzleien aber sah ich die Angestellten untereinander immerfort die Hand heben. Und Frl Mey erzählte uns, daß man es stricte durchführe.
    Der polnische Jude * Sandel. Er hat angegeben, die 240 M. die er von mir erhalten, seien ihm bei einer Zecherei ab ge handen gekomen. Er hat * Praetorius erzählt, er sei mit SA. Leuten zusamen gewesen. Die Staatsanwaltschaft stellt das Verfahren ein. – Eigentlich mir nicht unlieb; wozu da hineingezogen werden u. doch nichts erhalten? (Der Staatsanwalt straft nur – sorgt aber nicht für Rückerstattung. Diese bedarf der Privatklage.) Aber wie verlief die Sache, wenn der Mann deutscher Jude war u. nicht mit irgendwelchen SA. Leuten aufwarten konnte?
    Unser Nachbar * Schmidt baut sein Häuschen u. geht nach langen z. T. komischen Verhandlungen mit seiner Schleuse durch unser Terrain. Wir können diese Schleuse mit benutzen u. legen gleich Wasser u. Gas herein. Das ist immerhin etwas u. valorisiert das Terrain. Aber welche unendliche Mühsal, das alles mit meinen paar Groschen zu schaffen. Ich muß bis zum 31. 7. dreihundert M. Lebensversicherung aufbringen – wie im August das Geld für die Leitungen erübrigen? Ich rechne Pfennig um Pfennig, ich war nie in solcher Enge wie jetzt. Alle Nebeneinnahmen sind radikal abgeschnürt.
    Ich habe gar keine Ruhe mehr zum Tagebuchschreiben. A quoi bon? Ich werde zu irgendwelchen Memoiren doch nicht komen; ob man in 4, 5 Jahren ein Heft mehr oder weniger verbrennt – à quoi bon? Und doch reizt mich die Idee der Memoiren immer stärker.
    Mir taucht aus der Vergangenheit auf: meine erste Theater-Kritik: ich pfiff im Berliner Theater * Wilbrandts Timand[a]ra 1 aus u. jemand bot mir eine Ohrfeige an. Das muß vor 1900 gewesen sein. 2 – Meine erste eigene politische Meinung. Im Burenkrieg 3 war ich proenglisch. Ich glaube: aus Instinkt gegen die Glorifikation der Bauern, der alten Zeit, der Germanen.
    Die * * Schmidts zeigten uns ihr Häuschen, das heute zum Richtfest kommt. Ein primitiver armer Steinbau. Der Mann arbeitet selber als Maurer während seines Urlaubs hart mit Spaten u. Hacke. Wie ein Maurer, mit offenem zerrissenem Hemd, Taschentuch über den Kopf geknüpft, verschwitzt, empfing er uns gestern. Er ist ein kleiner Steuerbeamter, diente activ als Feldwebel als der Krieg ausbrach, zeigte uns den

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