Klemperer, Viktor
tauscht Nationalismus und Enge für Nationalismus u. Enge aus. Auch ist es ein Einwanderungsland für Kapitalisten. Es soll etwa die Größe der Provinz Ostpreußen haben; Einwohner: 200 000 Juden u. 800 000 Araber. – Sebba äußerte sich über Deutschland furchtbar pessimistisch. Er sagte, wir seien eisern boykottiert. Die Regierung werde mit Tyrannei und äußersten Zwangsmaßregeln wie Brodkarte, Gehaltsreduktion, etc Inflation eine Zeitlang sich halten, vielleicht den Winter über, vielleicht noch länger – dann aber komme ein unvorstellbares u. blutiges Chaos. Denn nach dem Sturz dieser Regierung gebe es keine Aufnahmestellung, weil sie alle Organisationen zerstört habe. (In dieser Woche löste als letzte Partei sich das Centrum auf. 1 ) Die schlimmste Prognose stellte er den Juden. Er sagte auch, es gehe das verbürgte Gerücht, * Hitler habe im Geheimabkomen den Polen ihren deutschen Besitz garantiert, um im Innern freie Hand zu haben. Wirklich ist ja vor ein paar Wochen plötzlich durch seine Friedensrede alles entspannt worden. Damals soll die polnische Armee zum Einmarsch bereit gestanden haben, in Kbg. habe man das genau gewußt. In den deutschen Blättern war nichts als Kriegsalarm. Dann plötzlich ist alles still geworden. Und jetzt diese ungeheure Tyrannei im Innern, das Zerbrechen aller Parteien, das tägliche Betonen: wir Nationalsozialisten haben die alleinige Macht, es ist unsere Revolution, Hitler ist absoluter Herr. – * * Blumenfelds u. * Toni Gerstle waren noch anwesend, es herrschte die dumpfeste Stimmung.
Für meinen Teil wird mir immer klarer, wie völlig ich ein nutzloses Geschöpf der Überkultur bin, lebensunfähig in primitiveren Umgebungen. * Sebba, * Blumenfeld, * Dember finden ihr Brod da u. dort, können sich irgendwie ins Praktische umstellen. Ich dagegen – nicht einmal Sprachlehrer kann ich sein – nur Geistesgeschichte vortragen, und nur in deutscher Sprache u. im völlig deutschen Sinn. Ich muß hier leben u. hier sterben.
Wir setzen auch die verzweifelten Bemühungen um unseren Dölzschener Bau fort. Jetzt habe ich wieder mit einem Makler angeknüpft, diesmal heißt er * Mendelsohn. Dabei bin ich ganz von Geld entblösst. Gestern kam eine Nachtragsforderung zur Grunderwerbssteuer: 150 M. Man rechnet: das Terrain koste 4 000 M. Darauf laste 3 000 M. Grundrente (für die ich 240 M Zinsen im Jahr zahle), also sei es 7 000 M. wert, u. ich hätte 5 % Grunderwerbssteuer von 7 000 zu zahlen. Neben der jetzt fälligen Lebensversicherung + Zinsen u. neben dem Beschleusungsgeld bringe ich das kaum auf. Dabei ist von Monat zu Monat mit Gehaltskürzung zu rechnen.
Es hat seit Wochen immerfort geregnet, jetzt ist es bei ständiger Gewitterdrohung drückend feuchtheiß geworden. Gestern waren wir zum erstenmal seit Pfingsten oben; unser Terrain hat sich in eine Praerie verwandelt, Gras u. Disteln wuchern uns hoch über die Knie. Wir saßen dann ein Weilchen in * * Dembers Garten. Emigranten-Gespräche.
Ich machte heute nach ziemlich langer Arbeit die Recension * Brum[m]er: * Naigeon 1 fertig für das Lit. Bl. – natürlich weiß ich nicht, ob sie gedruckt wird. Damit ist der augenblickliche Referatstapel erledigt und nun die Hand für eine neue zusamenhängende Arbeit frei. Für welche? Ich warte noch immer auf * Walzels Entscheidung. Er schlug mir vor, das fascistische Italien seit 1919 dem deutschen Gesinnungsgenossen * Schürr zu überlassen, das habe ich abgelehnt u. die ganze Epoche 1850–1933 gefordert. Er wird das nicht bewilligen können; in diesem Fall gehe ich an mein 18 e siècle, 2 und tue damit bestimmt das Richtigere – aber natürlich würde ich mich weniger kränken, wenn das Ding anders liefe. Das Gefühl des Abgewürgtseins ist gar zu gräßlich.
Neulich las ich rasch hintereinander weg wieder einmal einen Roman von * Possendorf vor: den Krystallseher von Gillstreet. Immer die Mischung: Kriminalroman + Occultismus. Aber im immer mit einem Zusatz von Humor und fesselnd erzählt, nicht eigentlich Schund Schund. Diesmal verfolgt ein Inder den Verführer seiner Tochter u. bringt ihn zur Strecke. Er hat einen Zauberkrystall in dem man Zukunftsvisionen erblickt, er hat eine Riesenschlange, in der die Seele seiner unglücklichen Tochter lebt. Sehr nett die jüdischen East-End-Leute, bei denen er Aufnahme findet. Noch einmal: Possendorf ist kein Schundschreiber. Er hat seine persönlichen Züge, er spielt mit dem Okkultismus zwischen Glauben u. Unglauben u. haßt die
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