Klemperer, Viktor
Menschen u. Literaten. Der findet in ihm den Hofnarren seines Renaissancestückes. Liebt ihn, bildet ihn, reißt ihn aus seiner Sphäre. Ulle hat Erfolg als Schauspieler in dieser einen Rolle . Verliert den Halt seiner Einsamkeit u. ihre Würde. Wird eitel, verliebt (die kokette Frau des Dichters, die skrupellos perverse Schauspielerin), peinlich. Die tragikomische Episode im Bade Untersee. Man spielt mit Ulle. Der Dichter ist bei einem andern Stoff, auch ist ihm der gewandelte Ulrich reichlich widerwärtig. – Das Stück wird abgesetzt u. Ulle liegt auf der Straße. Er kann nicht zurück, weder praktisch, noch seelisch. Er findet einen Unterschlupf als Glücksraddreher in einer Bude. Er hat nur noch ganz kurz zu leben; er ist über dreißig u. wird als Zwerg höchstens 35. Er findet in die Einsamkeit u. die dumpfe All-Hoffnung zurück. – Ein sehr bedeutendes Buch. Wie fein am Rand das kleinbürgerlich altjüngferliche Fräulein Brettscham, das den Knaben liebt, auch später bemuttert – mit schlechtem Gewissen, da der Zwerg sie körperlich abstößt. wie fein das Menschlich-Echte u. das Literatenhafte, Egoïstische in dem Décadent Struensee. Wie fein in ihrer unbefangenen Gesundheit u. Roheit die Artisten, wie dr eindringlich die rohe u. roh leidende Lionella. Und die Tiere! Billiger die satirische Schilderung der Gesellschaft, des Theaters, des Badelebens – billiger aber auch sehr gut. – Die * Baum ist wesentlich mehr als die Autorin der Berlin[er] Illustrierten, sie ist Dichterin.
Vorher las ich vor Ann Vickers von * Sinclair Lewis . 1 Als Roman auf sehr lange Strecken nichtig. An Ann Vickers werden nur die Dokumente u. Schilderungen amerikanischen Lebens aufgehängt, wie Kleider an Gliederpuppe: Das Mädchencollege, die Suffragetten, die öffentliche u. private Wohlfahrt, das Gefängnis, der Strafvollzug, das Leben der jungen Leute, die 1917 in den Krieg müssen – Abtreibung, eine Hinrichtung, Wohlfahrtsfest, Ehe. All dies Aufgehängte als Sittenschilderung u. Essai ausgezeichnet. Bedeutendste Ergänzung zu * Dreisers Erinnerungen. Eindringlich u. humorvoll. Aber auf lange Strecke den Roman überwuchernd, erstickend. – Der Roman selber aber, von 700 S. etwa 200 ist auch gut. Er läßt als Roman immer dort nach, wo die Menschen um Ann als Menschen leblos bleiben, nur Fälle sind. Der eigentliche Roman: Das stolze u. doch auch bei allem Willen zur Selbständigkeit stark weibliche Mädchen, ihre Liebesbedürfnisse u. Erlebnisse. Eine Kette von Enttäuschungen vor u. in der Ehe. Insbesondere der jüdische Hauptmann, der seine Todesangst zeigt – eine * Schnitzlergestalt, 2 der sich zuletzt an Krieg u. an der Ehe mit der stärkeren Ann vorbeidrückt – das Kind von ihm läßt sie abtreiben. (Es ist ziemlich viel Antsemitismus in diesem Buch.) Die Erfüllung schließlich nicht ohne Ironie: die streng rechtliche Gefängnisdirectorin, Dr. juris u. Ehefrau, 40 Jahre alt findet ihr Glück bei einem Fünfziger, Ehemann, Vater, Richter am obersten Gerichtshof in New-York, der wegen unsauberer Geldaffaire zu 6 Jahren Zuchthaus verurteilt wird, von denen er zwei absitzt. Von ihm hat sie einen Sohn, mit ihm wird sie leben u. frei sein. – Es ist ein Buch gegen das Heldentum u. die starre Tugend, für die Menschlichkeit. – Merkwürdige Coincidenz: alles was satirisch in dem Roman über den Strafvollzug als bessernde Strafe u. gegen Humanitätsdusel geschrieben ist, stand dieser Tage als sittliches deutsches Reformprogramm auf diesem Gebiet, wonach bereits verfahren wird, in der Zeitung. Der Zeitung – denn es gibt ja nur noch eine .
Vor ein paar Wochen sahen wir wiedereinmal einen * Kiepura Film; 1 er ist wohl älter u. bestimmt schwächer als die beiden andern. K. ist Fremdenführer in Neapel, Pompeji, Capri – die schöne capriziöse gelangweilte Dame aus Wien, * Brigitte Helm. 2 Liebe. Sie nimmt ihn mit nach Wien, er soll Sänger werden; sie gehört ihm nicht allein, spielt mit ihm – er geht zurück in seine napoletanische Enge. Sehr gut * Georg Alexander 3 als der leise trottelhafte gutmütige demütige Wiener Liebhaber, der immer wartet u. schließlich trösten wird. Alles ein bißchen Filmschablone, aber ganz nett – u. Kiepuras Stimme u. Spiel ist immer Genuß. Titel: Die singende Stadt .
– Die Baugeschichte geht nicht vorwärts u. bringt Enttäuschung über Enttäuschung u. gräbt uns so allmählich das Grab. (Das ist keine Phrase.) Neulich war der alte * Praetorius ganz gewiß – aber ganz
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