Klemperer, Viktor
gewiß, er hatte mit dem Leitenden gesprochen – daß ich von der Stadtbank 6 000 M. Darlehen erhalten könnte. Zwei Wege in glühendster Mittagssonne. Dann war der Leitende ein kleiner Angestellter gewesen, u. der Abteilungschef wies uns beinahe mitleidig amüsiert ab. Das geht wirklich einigermaßen gegen die Würde. Aber ohne den Bau schleppe ich * Eva sicher nicht mehr lange durchs Leben.
Von * Walzel habe ich nichts mehr gehört u. bin innerlich mit dem italienischen Plan ganz fertig. Ich stecke nun seit etwa 14 Tagen sehr ernstlich in der Arbeit am 18 e siècle. Sie macht mir in den wenigen Stunden der Frische wirkliche Freude. Aber sie erscheint mir uferlos u. hoffnungslos. Einige Notizblätter sind schon gefüllt: * Crébillon, * Lamotte 4 usw. Aber ich glaube nicht mehr, daß ich diesen Band noch schreiben u. gar, daß ich ihn je gedruckt sehen werde. Man muß nur mit Anstand über die Zeit kommen. Ich fühle mich recht leidend u. glaube nicht, daß ich noch einen längeren Zeitraum vor mir habe. Zumal ich ja gar nichts zu meiner Erholung tun kann.
Einzelheiten zum temps qui court. 5 Auf der Straße sprach mich (nach Jahren) der junge * Fleischhauer 6 an. Referendar, verlobt, deutschnational. Er war mit seiner Braut, in elegantem Civil. Wundern Sie sich nicht, wenn Sie mich einmal in Stahlhelmuniform mit Hakenkreuzbinde sehen. Ich muß – u. als Stahlhelmer bin ich doch etwas besseres u. anderes als SA. Mann, u. vom Stahlhelm werde die Rettung kommen.[] (Von den Demokraten nicht – von den Deutschnationalen). – * Frau Krappmann, die stellvertretende Aufwärterin, dicke Kränzelschwester der * Frau Lehmann, ihr * Mann Kraftfahrer bei der Reichspost. Sie erzählt mit Thränen in den Augen: ein Kollege ihres Mann[es] Knall u. Fall entlassen, weil er nicht mit Armaufheben gegrüßt hat .. Ein Freund, aus dem Concentrationslager freigekomen. Er mußte dort, ein brillentragender Mann, auf den Namen Brillhund hören, er mußte seinen Eßnapf auf allen Vieren kriechend apportieren, wenn er Essen haben wollte. Er mußte bei der Entlassung unterschreiben, über alles zu schweigen. – * Stepun 1 schickte mir ein * Frl. Isakowitz 2 zur Berufsberatung zu. Sie hat Ostern hier ihr Abitur gemacht, * Vater jüdischer Zahnarzt. Sie möchte Dolmetscherin werden. Quomodo? Das Institut in Mannheim ist nach Heidelberg verlegt, * Gutkind entfernt (wohin? unbekannt), Nichtarier haben keinen Zutritt. Sie will versuchen, hier ein, zwei Semester zu studieren. Fraglich, ob man sie zuläßt. – Frl. * Günsburger, 3 ältere Schülerin Walzels, die eine Weile bei mir gehört hat, schickt mir ihre Dissertation aus Paris. Teildruck. Das Ganze sollte ein Band in * Walzels Sprach Wortkunst-Samlung werden. Über Stilmittel der deutschen Romantiker. Sie promovierte Dezember 32 in Bonn. Jetzt weigert sich * Hueber, das Buch einer jüdischen Autorin herauszubringen. Ihre Eltern nach Haifa ausgewandert. Sie selber hat zur Zeit durch * Lichtenbergers Vermittlung 4 eine bourse 5 in der Cité universitaire. 6 Zukunft ungewiß .. In der Vita nennt sie als ihre Lehrer nächst Walzel: * Curtius, 7 Klemperer, * Rothacker, 8 * Spitzer. 9 Das erste u. wohl einzigemal, daß ich von einem Doctoranden als Lehrer genannt worden bin. So ist Ulle dem Zwerg zu Mut, als ihm, dem dreißigjährigen einer zum erstenmal Herr Mooy sagt. – * Dember endgiltig in den Ruhestand versetzt. Endgiltig – wenn diese Regierung endgiltig ist. – * Kuske, der Händler, berichtet als neues Nachtgebet: Lieber Gott, mach mich stumm, daß ich nicht nach Hohnstein 10 kumm.
Ich will, wenn auch in Abbreviatur, mein Tagebuch so weiterführen, als ob mir noch Zeit bliebe einmal die geplante Vita zu schreiben. Ich will am 18 e siècle so arbeiten, als ob mir noch Zeit bliebe, es einmal zu schreiben. Vielleicht komme ich doch über die jetzige Depression hinweg, habe ich doch noch ein Dutzend Jahre vor mir. Vielleicht wird aus * Eva doch noch einmal wieder ein gesunder u. froherer Mensch. Jedenfalls hat untätiges Verzweifeln gar keinen Zweck. Aber ich warte qualvoller von Tag zu Tag, als ich in meinen jungen Jahren gewartet habe.
Erstaunlich u. geradezu beglückend ist der Reichtum der Landesbibliothek im Punkte des 18 e siècle. Verschollenste Autoren in mancherlei Ausgaben. Das war die europäische Literatur, u. die sächs Könige waren Europäer. Heute bewunderte ich die Fülle der Voyages = Literatur. 1 Ich bestellte vorderhand 19 Bde für den Lesesaal.
Die ödeste
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