Klemperer, Viktor
Lungenschuß, den er am 20/8 14 bei Gumbinnen erhielt, war dann über 6 Jahre bis 1921 in Sibirien u. ist nun gleichgeschalteter Steuersekretär mit * Frau u. 2. Kindern. Ein kräftiger Mann, Anfang 40 – ich beneidete ihn ein bißchen um sein simples Glück.
Der Film Amerikanischer Bankkrach 1 (17/7), den ich neulich als zweiten zu berichten hatte, ist rein tonfilmisch das beste Stück, das ich bisher sah. Nirgends Musik, durchweg im raschesten natürlichsten Tempo Conversation, ganz u gar pièce in der Art * Augiers u. * Sardous. 2 Trotzdem die Eigenart des Films gewahrt: das Gerücht, die Bank sei unsicher, verbreitet sich – Telephongesichter, Leute beim Friseur, etc. Der Run: die Halle normal, das Gedränge an den Schaltern wächst, der Massenansturm. Dann der Umschwung: Einzelne durchbrechen ostenta[ti]v das Gedränge: ich zahle ein, hier ist Sicherheit. Die Flut stockt, strömt ab – nun kommen die Geldautos, die große Summen bringen, von Soldaten bewacht – – dies Zusammenfließen, Anschwellen, Abschwellen, Umkehren der Bewegung in den Bildern des Lebens selber selber, rein real, ist Domäne des Films. – Auch das Drama ist gut. Einerseits rein französisch gearbeitet, mit scènes à faire 3 u. Thesen, andererseits ganz amerikanisch u. modern. Der Bankdirektor, der sich als Bürger verpflichtet fühlt, Kredit zu geben, der Wirtschaft zu helfen, wo irgend möglich – die ängstlichen hemenden Actionäre. Ein verführter junger Mensch muß einen Bankraub zulassen, Fama schwellt die entwendeten 50 000 Dollars auf – der Run auf die Bank. Gleichzeitig seelischer Zusammenbruch des Mannes: seine vernachlässigte Frau hat unvorsichtig geflirtet, ist im bösesten Verdacht. Und dann wendet sich alles zum strahlendsten happy end. Gute Charakteristiken, Mischung von Humor, Sentimentalität, Sensation, bewährte Momente: das Stellen der u. Verstellen der Controlluhr am schweren Stahlwerk des Tresors, die Verführungsscene, dem edlen Unschuldigen fehlt das Alibi, weil er die Frau des Directors nicht verraten will, die Verfolgung des Schuldigen – vor allem der Run. Aber auch die große Rede des Directors vor dem Aufsichtsrat: wir müssen Credit geben! – Noch vor zwei Jahren bewiesen wir die innere Unmöglichkeit des Tonfilms; er könnte bei vollendeter Sprechtechnik doch nur eine Copie des Bühnenstücks geben. Hier gibt er Eigenes u. Neues. Film-Bühnenstück . Noch ein technisches Wunder. Amerikanische Schauspieler u. deutsche Sprecher so zusamengearbeitet, daß absolute Einheit entsteht. Der Autor ist nicht genannt, nur der Regisseur usw. – Collektivwerk!
Vorgelesen: * Joseph Roth 1 Radetzkymarsch 1932. Historie des sterbenden Oesterreich. Für den Autor halte ich einen jüdischen Arzt. Vorspiel: bei Solferino rettet der Leutnant Trotta dem jungen * Franz Joseph 2 das Leben. Er wird geadelt u. dadurch von seinem Vater getrennt, dem Gendarmeriewachtmeister, der seiner Bauernfamilie noch nahe steht. Der Held von Solferino nimmt Abschied, weil seine Heldentat verlogen in Lesebüchern steht. Der Sohn wird Bezirkshauptmann, der Enkel, wieder Leutnant, fällt im Anfang des Weltkrieges. Das Bedü Buch – ein reiches Meisterwerk – bedürfte genauester Analyse. Ich kann mich nicht dazu zusamenreißen.
Ich lese schleppend u. hoffnungslos zum 18. Jh. * Crébillon . 3 Ich glaube nicht, daß ich noch einmal den Jugendmut zum großen u. blinden Überblick finde, ich ertrinke in Stoff u. Skrupeln. – Dabei bin ich fast froh, daß sich der italienische Auftrag zerschlagen hat. (Wenigstens habe ich nichts mehr davon gehört, seit * Walzel schrieb, man brauche für das fascistische Italien einen deutschen Gesinnungsgenossen als Autor, cioè * Schürr.
Donnerstag 10/August .
Vorgelesen: * Vicky Baum: Ulle der Zwerg. 4 Mißgeburt, Vater zuckerkranker Säufer, Mutter Grünkrämerin zur Dirne sinkend. Anfang lyrisierte * Clara Viebig, 5 Zeit etwa 1905, 1910, vor Krieg, vor Film u. Auto – aber Wandervögel schon u. Dekadenz = , Renaissancegeschmack. Der ganz einsame Junge ohne Kameraden. Wird Zwerg in Jahrmarktsbude, verzweifelte Scham, allmählich Art Standesgefühl als Clown. Gute Schilderungen, am besten die traurige Klapperschlange, die jungen Krokodile, mystisches Weltgefühl. Gestalten: der brutale Budenbesitzer, der roh gutmütige hübsche Ausrufer u. Artist, das Stück Weib, Lionella, das Löwenmädchen, – erhängt sich. – Jahre später: Ulle begegnet Struensee, dem Dichter[,] wirklich einsamen
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