Klemperer, Viktor
Ungläubigen; er ist kein tiefer Me Psychologe, zeichnet aber lebendige Menschen, er hat Ideale u. einige Ideen, er ist ein immer amüsanter Erzähler. Alle halbe Jahre kann man etwas von ihm lesen. Vorher hatte uns ein * Joseph Conrad 3 (Der goldene Pfeil) derart enttäuscht, daß wir vor Langerweile nach 100 schleppenden, innerlich u. äußerlich leeren Seiten stecken blieben. Jetzt eine ernsthafte Lektüre, die wie ein Roman spannt: die Autobiographie * Pupins. 4 * Karl Wieghardt hat sie uns geliehen, und ich werde darüber noch berichten.
13 Juli, Donnerstag Abend .
* E s Geburtstag ging leidlich vorüber. Am Abend bei uns * * Blumenfelds, * * Kühns, * Annemarie, * Karl Wieghardt – am Nachmittag die jungen * * Köhlers. – * Kühn, der dem 3. Reich eine lange Dauer prophezeit, es aber doch im letzten für vergänglich hält, machte eine interessante Bemerkung. Er sagte, * Mussolinis Régime entspreche den Tyrannïen der italienischen Renaissance, es sei also offenbar der italien. Psyche angemessen u. werde etwa so dauern wie die Herrschaften der Medici, Este 1 etc., es sei südliche Regierungsform. In Deutschland (u. das ist ja auch meine Meinung) sei diese Form nirgends in der Geschichte zu finden, sie sei absolut undeutsch u. deßhalb ohne eine irgendwie endgiltige Dauer. (Cf. 2 mein Nachwort!) Aber sie sei im Augenblick mit deutscher Gründlichkeit organisiert u. deßhalb in absehbarer Zeit kaum zu beseitigen.
20 Juli Donnerstag .
* Frau Blumenfelds Bruder, der Missionsprediger, hier zu Besuch mit seiner Frau, erkrankte plötzlich u. starb ganz rasch nach vergeblicher Gallenoperation, 54 Jahre alt. (Wir sind früher mit dem Mann u. seinem Sohn bekannt geworden, sollten diesmal am Sonnabend mit ihm zusammen sein – Abends, u. am Nachmittag starb er.[)] Gestern bei Beerdigung auf dem Friedhof in der Chemnitzer Str. vor Blumenfelds Fenstern. Die Intelligenzfreunde Bl s: * * Raabs, * Frau Schaps, * Frau Dember etc u. die kleinbürgerliche Sektierergemeinde, die der Mann hier gehabt. In der Halle ein Quidam 3 in Civil, * Richard Kroner ungemein ähnlich, Typ des denkenden Indianers, sehr interessant predigend. (Frau Schaps behauptet, der * Redner sei ein Professor u. Ingenieur gewesen) Die Vita des Toten: Jude, Schauspieler, dann für ein Reisebüreau in Italien tätig, sein Finger weist Wege über die Landkarte. Da erbarmt sich Gott dieses Fingers. Ein amerikanischer Christ, dem der Mann italienische Stunden gibt, bekehrt ihn zum alten Testament u. dann zum Lam Gottes. Er tritt über, er predigt. Bund der Christen. Wir kennen keine Rasse, keine Nation, nur Christen u. überall das A. T. u. das Lamm Gottes. Und der Entschlafene hat die Gabe in vielen Sprachen zu predigen. Er reist herum, er lebt ernährt sich bisweilen von anderen Geschäften, aber er predigt, er bekehrt Juden zum Lam Gottes. Und er sieht Jesum, u. macht ihn andern sichtbar. – Diese Rede nicht übel, u. mit der Unterschiedslosigkeit aller Christen u. der merkwürdig unterstreichend[en] Handbewegung – die flache Hand gekantet, wie ein Rouleau von den Augen nach unten geführt: die Grenzen der Rassen u. Nationen, wir kennen sie nicht – geradezu aktuell u. kühn. Aber dann am Grabe ein[e] geradezu komische Kinoscene. Ein alter Mann, weißer Schifferbart, dickes rotes, blau anlaufendes Gesicht, predigt noch einmal, in der einen Hand eine Bibel, in der andern einen Kneifer schwingend, schreiend, weinend, sehr lang u. ganz kindlich-sektiererhaft. 400 Jahre vorher haben die Weisen der Bibel den Erlöser bis ins Einzelne vorausgesagt, sein Grab genau beschrieben usw. Und deßhalb sind wir glücklich im Glauben ... Merkwürdig naïv gingen die harten Widersprüche nebeneinander her: er schläft bis zur Auferstehung – er schläft nicht, er ist schon im Himmel; wir freuen uns – wir müssen Trost haben. (Die beiden Vorstellungen des Schlafens u. des Drübenseins u. Belohntwerdens oder Büßens habe ich nie so durcheinander gewirrt gewirrt angetroffen wie gestern). Es gibt aber zahllose Menschen, die noch Kraft zu irgendeinem einfachen Glauben ( oder Unglauben ) haben. – Ich habe nur den ganz kindischen Ekel vor dem Grabe u. dem Nichts – sonst nichts mehr.
Ich war ohne * Eva bei dem Begräbnis. Ihr geht es wieder recht schlecht. (Am Telephon erfuhr ich: der erste Redner war der o. Prof. d. T. H. Reg. Baumeister * Neuffer. 1 Liest über Eisenbeton, über Massiv = u. Holzbau u. predigt, daß man Jesum schaut – hat
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