Klemperer, Viktor

auf elektrisch betriebenen Grammophonplatten hörten wir prachtvoll Lieder von * R. Strauss 3 und * La Traviata. 4 Mir fiel bei * Evas Auseinandersetzungen zur Sache (reine Musik der Melodie über wenigen Begleitgriffen der Guitarre) * Rousseaus gesamte Theorie der Musik ein ... Um 12 durch die Stadt im Bock nach Hause. Auch das ganz geniesserisch.
    Heute vor acht Tagen war * Annemarie Köhler bei uns. Sie berichtete von stärkster Unzufriedenheit der Bauern.
    Die ständigen Gerüchte überall im Volk um den * Bürgermeister Zörner. Man sagt immer erst in zweiter Linie, dass er in einen Unterschlagungs- oder Bestechungsprozess, der an die vorjährige Ausstellung geknüpft ist ( * Linke 5 ) verwickelt sei. Alle kleinen Leute ( * Lange, Butterhändler, * Wolf, der Automann, * Frau Lehmann, * Vogel) alle gebrauchen immer zuerst den Ausdruck: er ist verseucht. Alle sagen immer, seine * Frau ist längst fort von ihm. Weil nämlich seine Eheschliessung hier als eine Art Regierungsfest und Propaganda für nationalsocialistische Bevölkerungspolitik und Sittlichkeit aufgezogen wurde, und weil doch jetzt soviel von der katholischen Unzucht die Rede ist. An einem Tag k[a]men unabhängig von einander drei Leute zu uns: Zörner hat sich erschossen. (Wolf: []Mir hat es ein Amtswalter erzählt) Danach: er sei suspendiert und in Berlin bei * Hitler, seinem persönlichen Freunde. In die Zeitung kommt kein Wort. Dass die Gerüchte überall umgehen, MUSS bekannt sein, und doch wird nichts widerrufen ... Wichtig ist mir auch, dass ich mehrfach von einfachen Leuten hörte: auf solchen Posten gehöre doch ein studierter Mann – warum setze man einen Kaufmann[,] einen Parteimenschen dahin? So horche und horche ich auf jede Regung – aber [ aber ] schliesslich ist es doch wohl immer das Rauschen im eignen Ohr bei grosser Stille.
    * Zaunick, 1 Gymnasiallehrer und Honorarprofessor für irgendwas Physisches an der T. H., Mann um die Fünfzig, mir früher ergeben, kommt neulich an den Wagen, als wir am Bismarckplatz stehen. Parteiabzeichen. Könnte bequem vorbeigehen, ohne uns zu bemerken, könnte allenfalls grüssen. Parteiabzeichen! Kommt aber mit offenbarer herzlicher Freude heran. Wie es mir gehe, ob ich in Dresden geblieben sei, wie leid es ihm tue ... Was ich in letzter Zeit publiziert hätte? Entsetzt, als er hört, dass von mir nichts veröffentlicht werde. Was ich täte? – Warten und arbeiten! – Für den Nachlass? – Man muss abwarten. Herzliches Händeschütteln und betrübter Abzug. Mitglied der Partei!
    Von meinem * Wilbrandtartikel für Wien habe ich Correktur erhalten. Es war mir zugleich ein frohes und sehr wehmütiges Gefühl, mich wieder einmal gedruckt zu sehen. Die Hunde hatten meine Sendung gar nicht empfangsbestätigt, auf meine Frage, ob gelegentlich weitere Mitarbeit erwünscht sei gar nicht geantwortet, ich musste mich erst an * Robert Wilbrandt wenden, der in Wien reklamierte. Sooo klein bin ich geworden; und doch freute ich mich. Kalauerisch wäre zu sagen: ein Öl(druck)blatt, wo man schon fast am Ersaufen war 2 (oder ist).
    * Betty schreibt aus Cleveland Ohio, sie komme im Sommer nach Europa – Einladung ihrer * Schwester Grete Rebenwurzel-Goldschmidt, die seit Jahren in Paris lebt, sie werde auch ein, zwei Tage in Dresden sein. Wir haben sie aufgefordert bei uns zu wohnen ... Schwere Eifersüchteleien zwischen * Marta und * Grete anlässlich unserer Pfingstfahrt. Wie wird das nach der Nordseereise werden! [I]ch bin wirklich besorgt, möchte Marta nicht kränken, aber was tun??
    Seit Ende Mai möchte ich mir genauere Notizen zu * ARUNDEL machen und komme nicht dazu und muss es wohl endgiltig für jetzt aufgeben. Wie fein und eigenartig die Technik, die den * Obersten Arnold 3 ins Centrum setzt, während er im eigentlichen Roman gar nicht Hauptperson ist. Wie eigentümlich, dass gar nicht gesagt wird, was er später Entsetzliches getan hat. (Weiss das wirklich jeder amerikanische Leser? Jeder europäische gewiss nicht, ich z.B. bis heute nicht, da mir der Lesesaal und damit der Brockhaus verschlossen ist.) Wie fein die Technik, die einfachern Verhältnisse des Quebecunternehmens 4 von dem einfachen Gastwirt Steven Nason, die complizierteren politischen Situationen des zweiten Bandes von dem gebildeteren Peter Merrill erzählen zu lassen! Wie fein Steven [u]nd Nathaniel Merrill unter derselben Dirnennatur leiden zu la[s]sen! Wie fein der Verführerin eine gewisse Grösse [zu geben] und sie zuletzt ungestraft