Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
Vom Netzwerk:
achten, wie seine Ausdrücke in unpolitische Literatur und Übersetzungen eindringen. In der äusserst lebendigen Übersetzung von Arundel ( * Vivian Rodewald-Grebin) wimmelt es davon: Diffamieren, Greuelmärchen, Volksgenossen ..
     

 
    2. Juni, Mittwoch.
    Ende April begann ich mich in * Fénelon einzulesen. Dann kam bis zum 12. Mai die * Wilbrandt-Episode, dann, lang nachwirkend die Berliner Fahrt. Erst heute habe ich sehr mühselig die ersten Zeilen am Fénelonabschnitt geschrieben. Er wird mir unendlich schwer, einmal weil er so abgeklappert ist, zum andern weil ich * Saint-Simon 1 mit hineinwursteln will. Und bei all der Quälerei immer das Gefühl, wahrscheinlich für den Schreibtisch und die Würmer zu arbeiten.
    Die Berliner Ermutigung hat nicht vorgehalten. Dass die Beschiessung von Almeria 2 wieder ruhig hingenommen wird, ist mir ein Beweis für die Macht der Regierung. In den Zeitungen spielt heute schon wieder der Kampf gegen die katholische Kirche die grössere Rolle. Welch ein Theater übrigens für einen künftigen Satiriker, wenn sich Nazis und Klosterleute gegenseitig Homosexualität und Unzucht vorwerfen!
    Zur Almeria-Sache machte * Eva die treffendste Bemerkung. Sie wies auf die ungemeine Gleichgültigkeit, ja offensichtliche Stumpfheit hin, mit der das Ganze aufgenommen wurde. Weder vor den Telegramm-Aushängen, noch irgendwie im Strassenverkehr oder im Gehaben der Leute oder in Gesprächsbrocken, war die geringste irgendwie geartete Anteilnahme zu erkennen. Keine patriotische Erregung, keine Kriegsangst, kein Mitleid mit den Deutschland-Matrosen 3 – gar nichts. Der ewige Alarm, die ewigen Phrasen, das ewige Fahnenhängen, bald als Triumph bald als Trauer – alles macht apathisch. Und jeder fühlt sich ausgeliefert, und jeder weiss, er wird belogen, und jedem ist vorgeschrieben, was er zu fühlen hat. Ob man morgen ein Viertelpfund Butter bekommen wird oder nicht, ist viel wichtiger als alle Affairen mit Spanien und dem Vatikan. Und an [K]rieg glaubt wohl keiner mehr; man ist zu gewohnt, dass das Ausland alles hinnimmt.
     

 
    11. Juni, Freitag Abend.
    Seit Tagen geradezu entnervende Hitze, über 30 Grad im Schatten. Dazu heute wieder wie im vorigen Herbst Chikane der Gemeinde wegen des unordentlichen Gartens, der Unkrautgefahr etc. Drei Mark Strafe, Drohung mit Paragraphen. Ich bin ganz hilflos dieser gewollten Bösartigkeit gegenüber. Als der Brief kam, war das Gras schon zum Teil geschnitten und der Onkel 4 bei der weiteren Arbeit. Dazu die Reglosigkeit der politischen Atmosphäre. Almeria beigelegt, die glorreichen Unzuch[t = ] prozesse gegen die Klöster alle Tage fortgesetzt, alle Tage Artikel und Reden über das glückliche, einige, von Arbeitslosigkeit befreite Deutschland, alle Tage Frieden. – * Helmuth Lehmann in seinem ostpreussischen Arbeitsdienst ist mit andern besonders stattlichen Jungen jetzt schon aus der gemeinsamen Arbeit gezogen zu besonderem Paradedrill für den Parteitag im September. Das soll alle Jahre im Mai einsetzen. Diese Leute sind eben gewiss, dass sie den September in Macht und Frieden erleben. Bisher hat sie ihre Gewissheit noch nie getäuscht, was sie auch immer Deutschland und der Welt zugemutet haben.
    Übrigens ist das bei mir natürlich ein Stimmungsrückschlag unter dem Druck der Gemeinde-Chikane. Die letzten Tage waren besser. Ich kam unendlich langsam vorwärts, aber schliesslich doch vorwärts in dem schwierigen * Fénelon- * Saint-Simon = Abschnitt, und Sonntag wird er wohl im Ms. fertig sein. Und ich freute mich gestern sehr über * Gretes Einladung zu einer von uns auszuarbeitenden Autoreise. Cf. meinen Brief an sie von gestern. Natürlich war es * Eva, die sofort auf Cuxhafen tippte und den Plan entwarf.
    Im allgemeinen fahren wir jetzt wenig. Aber am Sonntag, 30. Mai bei schönem Wetter, rafften wir uns plötzlich auf und fuhren in Nostop-Fahrt und knappen 3 Stunden ziemlich gemütlich nach Leipzig. Landschaftliche Höhe wieder die Elbe bei Meissen und Zehren, der Wald dann zwischen Zehren (etwa) und Oschatz. Mittag für Eva auf de[ j ]m prachtvollen und erinnerungsreichen Bahnhof, dann suchten wir * Trude Öhlmann auf, und diesmal trafen wir sie auch mit ihrem * Jungen an. Herzliche Aufnahme (und Kaffee) in beengtester Kleinbürgerlichkeit. Dann erwies sich die ganze Trostlosigkeit der Leipziger Landschaft: wir sollten Ö.s irgendwo ein bisschen in den Wald fahren, Klaus wusste ganz genau, wo, wir rollten eine lange Strecke unseres

Weitere Kostenlose Bücher