Klemperer, Viktor
verheiratet! 3 – wollen wir nach Oberwiesenthal.
Die Vita. Neulich sah ich mit eine[m]mal vor mir und hörte: Ich habe mich vom Vorlesen (Grätz 1 Geschichte der Juden[] oder so etwas) gedrückt, ich sei müde. Es ist etwa ½ 9. Mein Bett, das ist das Sopha in * Vaters Zimmer, neben mir die hohen Bücherregale. Nun sitzt * Wally am Schreibtisch und liest weiter vor. Es war wohl noch in der Albrechtstrasse, 2 der Grenadierkaserne gegenüber, Wally war 17, ich 12, Vater (der zeitlose Greis für mich) viel jünger als ich heute bin. Vater tot, Wally tot und so viele Bilder dringen auf mich ein – ich möchte das so gerne [ sch ]schreiben. Aber erst das Dix-huitieme, dann die Sprache des dritten Reichs und dann, wie Vater sagte, auf dem Sirius. Wie ich unten mit den Strassenjungen Murmeln spielte, während man oben über * Hedwigs Tod weinte, wie ich mit dem Reifen bis zum Potsdamer Platz lief und stolz darauf war und ihn dann liegen liess, weil er in Sch ... geraten war und mich anekelte, wie die Soldaten exercierten, wie * Georg aus der Charité zum Essen kam und für die Erwachsenen von einem Patienten Freikarten zum Deutschen Theater hatte, wo der Naturalismus florierte, wie * Grete hysterisch[ f ] für * Hannele 3 schwärmte, wie ich heulend erklärte, ich KÖNNE das französische Schulgebet niemals lernen: Notre commencement soit au nom du Père qui a fait le ciel et la terre ... wenn ich nur zehn Minuten nachdenke, fallen mir x Sachen ein. –
Die Kakesbüchse, aus der nur * Georg bekam, Vaters Apfelkuchen (von dem neulich auch Grete mit Rancune sprach) ...
Sprache des dritten Reichs: der Volksbild.- * Minister Rust auf einer Heidelberger Universitätsfeier: jetzt sei die Wissenschaft nationalsozialistisch ausgerichtet, und die Studenten seien politische Soldaten. – Heut eine * Hitlerrede in Würzburg wiedermal klarer religiöser Wahnsinn. Nur dass er nicht ich sondern wir sagte. []Die Vorsehung führt uns, wir handeln dem Willen des Allmächtigen entsprechend, es kann niemand Völker- und Weltgeschichte machen, wenn er nicht den Segen dieser Vorsehung hat.
Brief von * Hatzfeld aus Heidelberg. Er fühlt, er sagt fast wörtlich, was mir so oft durch den Kopf geht: er habe nie intensiver, uninteressierter gearbeitet als jetzt; und doch könne er nicht verhehlen, wie sehr es ihn aus Deutschland fortverlange.
Vanitas vanitatum 4 : ein Münchener Stud. rer. pol. Adolf * Leichtle, Lenzfried b. Kempten Allgäu, Schlossgut bittet für seine Sammlung im Schlossarchiv um mein Autogramm. Mir fällt Stümckes Ich der berühmte * Heinrich Stümcke 5 ein, und doch tut es mir wohl.
13. Juli, Dienstag.
Am 29. Juni war zu schlechtes Wetter für einen Ausflug. Aber wen[i]gstens konnten wir Abends in[s] Kino. Am 12. Juli dagegen tobte (und schon den zweiten, eigentlich den dritten Tag!) ein solcher Sturm mit unaufhörlichen Wolkenbrüchen, wie wir ihn in Dresden überhaupt noch nicht erlebt haben, und wir sassen fest eingeschlossen; nur Abends legte * Eva eine Drainage in der überschwemmten Garage an, und ich trug das Wasser eimerweise hinaus (fast wie ich in Aubers den Batteriestand ausschöpfte). Also ganz feierloser Geburtstag. Ich las viel vor – am Tage, was ich jetzt nur sehr selten tue – und brachte dazwischen im Ms. den Abschnitt * Vauvenargues zu Ende.
Am 29. im Film: * Paula Wessely, Die ganz grossen Thorheiten. 6 Das Stück ist ein Kitsch, und die Wessely spielt immer die ganz junge und ganz Kühne innerlich Reine in gewagter Situation, aber sie spielt immer wieder mit ungeheurer Wahrheit und Simplicität und siegt ohne alle physische Schönheit durch absolute Genialität. Diesmal kommt sie aus der Kleinstadt als angehende Schauspielerin nach Wien, hat sogleich am ersten Abend beschwipst mit einem beschwipsten Herrn complette Liebesnacht. Es ergibt sich, dass der Herr ( * Forster 7 ) [L]iebe und Gewissensnot fühlt, dass er ihr Lehrer an der Akademie und leider schon in ziemlich festen Händen ist. Qualen, drohende Tragik, und natürlich kriegt man sich.
Noch einmal im Kino am 10. Das alte erinnerungsreiche Fü.-Li 1 an der Fürstenstr. Diesmal ein richtiger allzurichtiger Hintertreppenroman, Criminal, Artistik, Not, Liebe, Wien New-York, beinahe Todessturz in der Gläsernen Kugel, 2 beinahe Mord aus Eifersucht – halbweges happy end. Die amüsanteste Scene: Der entsprungene Zuchthäusler, unschuldig, Gentleman a piu non posse, 3 auf dem Maskenball als beste Maske preisgekrönt. Der Mann im
Weitere Kostenlose Bücher