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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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seelenruhiger Überzeugung!) Ich: in den Romanen sei oft mehr Wahrheit als in der Historie. Protest. Ich: von zweien eines: entweder der Historiker ist nicht persönlich dabei gewesen, dann muss er sich auf Dokumente stützen und weiss also nichts absolut genau, muss subjektiv auslegen. Oder er ist dabei gewesen, dann weiss er erst recht nichts vom objektiven Sachverhalt ...Wie kommt Geschichte zustande? Ich muss immer an die Zofe im * Picknick in Peking denken, die den Gesandtschaftswachen Befehl erteilt ... Was weiss ich von selbst erlebter Geschichte? Ich war im Kriege, ich habe die Revolution und das dritte Reich aus allernächster Nähe erlebt – que sais-je? Und wer weiss mehr? Und wer waren die wirklichen Weltbeweger in alledem? Wahrhaftig * Hitler und * Göbbels? Man könnte fromm werden oder sehr unfromm – denn irgendwas oder irgendwer schiebt das alles, die Menschen selber bilden sich blos[s] ein, selber die Beweger zu sein.
    Und jeden Tag von neuem und jeden Tag stärker bewegt mich die triviale Antithese: so Ungeheures wird geschaffen, Radio, Flugzeug, Tonfilm, und die irrsinnigste Dummheit, Primitivität und Bestialität sind nicht auszurotten – alles Erfinden läuft auf Mord und Krieg hinaus.
    Entsetzliche Geldknappheit, buchstäbliche Abgerissenheit (meine Joppe löst sich auf, meine Handschuhe sind nur noch schwach zusammenhängende Löcher, meine Strümpfe ebenso) mehr als das halbe Monatsgeld wird gleich am Ersten an laufende Rechnungen gesetzt. Trotzdem in den letzten Tagen nach sehr langer Pause zweimal im Kino. Der Opernfilm * Gigli– * Cebotari 2 Mutterlied 3 sehr rührselig, ganz hübsch, bisschen öde. Aber gestern Nachmittag in der Schauburg weit draussen in der Königsbrücker Str. (zugleich eine unserer ganz seltenen Spazierfahrten, übrigens hatte der Bock auf der Fahrt zu * Frau Schaps ernstlich gestrikt, wir mussten ihn auf der Tankstelle stehen lassen und mit der Elektrischen zu spät kommen) – gestern also die Habanera 4 mit * Zarah Leander, geradezu erschütternd gut. Ich merke das hier nur an, irgenwann muss ich mal über diese ganz eigentümliche Schauspielerin, Sängerin und Diseuse mit der tiefen Stimme ganz ausführlich schreiben. Eine grossartige Mischung aus Tragik und Humor ohne eigentliche Sentimentalität. Wie famos diesmal die Kinderlieder und das Spiel mit dem kleinen Jungen, sie kommt wirklich in Spiel- und Kinderstimmung über den Kummer hinweg. –
    * Léonard 5 druckfertig, Ergebnis von Januar 38 also: 13 Maschinenseiten, * Colardeau, * Dorat, Léonard.
     

 
    19. Februar, Sonnabend.
     
    Quälerisch herumziehende Grippe und immerfort wachsende Geldnot. Seit ich 35 Mark für eine notwendig gewordene Batterie auf den März stehen lassen musste, ist gar kein Ende des Elends abzusehen. Jetzt ist auch meine Hausjoppe ein durchlöcherter Fetzen, und die sieben Mark für eine neue sind unerschwinglich.
    Morgen wieder Reichstag. Den man nach wie vor in der zweitrangigen Oper Berlins, bei Kroll tagen lässt. Symbolisch. * Der Führer – die Welt in Erwartung der Führerrede! – wird wohl darüber sprechen, dass er seit dem 4. Februar sein eigener Kriegsminister ist und * Blomberg und * Fritsch entlassen 6 hat, und dass Deutschösterreich nun so halbwegs angegliedert 7 ist. Und alles in Deutschland und in der Welt ist ruhig. – Gestern als er die Auto-Ausstellung in Berlin eröffnete und von dem Wirtschaftsaufschwung und den Fehlern und Verbrechen der früheren Regierung sprach, ging mir das Grundprincip der gesamten Sprache des dritten Reichs auf: Das böse Gewissen; sein Dreiklang: sSichs sich verteidigen, sich rühmen, anklagen – niemals ein Moment des ruhigen Aussagens.
    Vor dem Habanerafilm sahen wir neulich Zeitrafferaufnahmen aus dem Leben der Pflanzen: Abwehr, Schlaf usw. In Erinnerung daran: es gibt nicht die Linie: vegetative Unbewusstheit, instinktives Leben, bewusstes; sondern den Kreis: bew unbewusst, bewusst und wieder unbewusst, denn zuoberst im Geistigen steht die Inspiration und ist ein genau so unbewusster Vorgang wie das Wachsen der Haare. Aber das sagt nichts gegen die Vernunft aus. Sie hat doppelte Stellung: einmal IN diesem Kreis und einmal ÜBER diesem Kreis. Nur sie erfasst, erkennt, meistert. Unbewusstheit, Gefühl, Inspiration, Naturhaftigkeit usw. usw. ohne sie ergibt in der Kunst Gestammel und Unkunst, im Leben: Willkür, Zerstörung, Guillotine. Das muss einmal ins Schlusscapitel meines Dix-huitieme.
    Vorgelesen: * Hervey Allen:

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