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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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ein Weilchen auf, und wir tranken drei Schnäpse. Am Neujahrstag gingen wir unseren Arbeiten nach, ich begann den * Colardeau. 3 (Dem jetzt der * Dorat 4 folgt – es geht gar zu langsam.)
    * Johannes Köhler, von dem ich seit dem Sommer nichts mehr gehört habe, hat auch zu Neujahr nicht gratuliert. Am 4. schrieben WIR ihm einen Glückwunsch; es kam keine Antwort. – In den letzten Wochen hat sich die Judenhetze wieder verstärkt. Anlass ist der neue Fascismus in Rumänien; 5 Deutschland accompa[g]niert dem dortigen Antisemitismus und feiert ihn.
    Der Brief an den * Bankier Bachrach hatte ziemlich peinliche Folgen; statt das private Schriftstück privat zu beantworten, hat der Mann es an das * Warburg-Institut 6 (was ist das???) weitergegeben, dort hat ein * Frl Dr. Gertrud Bing zwei Copieen angefertigt und an meinen alten Freund * Demuth und an eine Society for the Protection of [S]cience and Learning gesandt. Nun kommt heute Demuth wieder: Schicken Sie noch einmal drei Lebensläufe etc. an uns, wir suchen weiter. Bloss Schreiberei, Zeitverlust, Ärger, Hoffnungslosigkeit. Doch schrieb mir die Bing auch, sie wolle versuchen, mir einen Vortrag in London zu arrangieren, und ob ich vielleicht den * Doctor Gutkind kennte, der jetzt italienischer Lektor in London sei. Ich schrieb zurück, ja, wir seien beinahe befreundet miteinander gewesen, er könne jede Auskunft über mich geben. – Was soll das alles? Es ist nicht bloss aussichtslos, und ich für[c]hte mich auch vor den Aussichten. Eva und Haus und Garten, und ich ohne Sprachkenntnisse – wie sollte das gehen? Aber wie soll es hier werden?
     

 
    11. Januar.
     
    Ich habe also Lebenslauf und Publikationsverzeichnis noch einmal geschrieben und ausgesandt. Unter den hier beiliegenden Dokumenten befindet sich jetzt das neue Curriculum neben der französischen Fassung vom Mai 35; es ist um einige Töne affektloser, ich vermag mein Deutschtum nicht mehr zu unterstreichen, die ganze nationale Ideologie ist mir einigermassen in die Brüche gegangen. – Ärgerlich viel Zeit nahm mir die Schreiberei weg.
    Den Rest der Zeit kostete heute eine Besorgungsfahrt. Die schlimmste Schneemisere ist überstanden, aber noch immer fährt es sich furchtbar schlecht und anstrengend.
    Ich wollte Cigaretten von dem alten jüdischen * Händler Weinstein holen, von dem ich mehrmals berichtete; er war vor vier Wochen gestorben, seine * Frau wohnt schon nicht mehr in der Polierstr. Der Mann ist einem Herzleiden erlegen, mein Mitleid besteht wohl zum grössten Teil aus egoistischen Angstgedanken.
     

 
    18. Januar, Dienstag.
     
    Am Freitag war * Berthold Meyerhof bei uns; er hatte Abrechnung mit einem Fabrikanten, den er früher vertrat und verabschiedete sich von uns: Anfang März geht er mit seiner * Frau nach USA, aus dem ganz Hoffnungslosen ins Ungewisse. Er sagte, überall wo er hinkomme, habe er den Eindruck von 1918, es sei die gleiche Atmosphäre wie damals. Aber er kann nicht warten und will es auch nicht; sein früher ernstlich vorhandener, vom * Vater ererbter Patriotismus ist ausgerottet, er sehnt sich danach Amerikaner zu werden. – Ich selber empfinde ebenso. Was auch kommen mag, ich werde nie wieder Zutrauen, nie wieder Zugehörigkeitsgefühl haben. Es ist mir sozusagen retrospectiv ausgetrieben; zu vieles, was ich in der Vergangenheit leicht nahm, als partielle peinliche Erscheinung auffasste, halte ich jetzt für gemeingermanisch und typisch.
    Der Superlativismus, der ein besonderes Kennzeichen der Sprache des dritten Reiches ausmacht, ist anders als der amerikanische. Die USA-Leute prahlen in einer kindlichen und frischen Weise, die N.s tun es halb grössenwahnsinnig, halb in krampfhafter Autosuggestion. Eines ihrer Lieblingsworte ist ewig. Wir haben, sagte * Ley gestern, bei der Einweihung etlicher * Hitlerschulen, 1 den Weg in die Ewigkeit gefunden. – Ein besonderes Beispiel plumpen Lügens und Verheimlichens und Verdrehens war in den letzten Wochen die Berichterstattung über die Kämpfe um Teruel. 2 Erst waren bolschewistische Horden in das unbedeutende Nest eingedrungen, dann war die heldenmütige Besatzung der Festung Teruel befreit worden, der Generalstab (in Anführungsstrichen) der Roten gefangen, ihre neue Armee verblutet. Dann hielten sich noch immer Bolschewistennester in der Stadt, dann waren wohl wegen der Unfähigkeit des Abteilungskommandanten die nationalen Truppen aus der unwichtigen Stellung zurückgezogen worden, soweit sie nicht durch den Verrat

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