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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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denkt immer: das Theater habe seinen Gipfel erreicht, und dann zeigt sich ein noch höherer Gipfel. Diesmal sind es zwei Minuten Verkehrsruhe, und mit den[ e ] Sirenen heulen die Lokomotiven, und in der Luft über ganz Deutschland kreisen Flugzeuggeschwader.
    * Roucher 6 fertig und beiliegende etwas [k]okette Anfrage an die Bibliothek gerichtet. Nun will ich die fertiggestellten Seiten des Eposcapitels in die Maschine bringen und dann an * Delille gehen. Nur nicht an die Sinnlosigkeit des Unternehmens denken.
    * Grete forderte nochmals zum Kommen auf und schickte 50 Mark; es ist sehr rührend und sehr demütigend.
     

 
    10. April, Sonntag Nachm.
     
    Heute die Wahl, der Tag des grossdeutschen Reiches. 7 Gestern Abend Glockengeläut eine Stunde lang, hineingemischt ein Rauschen, offenbar das radioübertragene Läuten der Wiener oder Berliner Glocken. Dazu das Rauchrot der Fackelzüge über der Stadt, illuminierte Fenster selbst hier oben in unserer Einsamkeit.
    Seit Tagen tritt das Gottesgnadentum immer deutlicher hervor. In der Zeitung immer wieder: er ist das Werkzeug der Vorsehung – die Hand muss verdorren, die Nein schreibt – die heilige Wahl ... Überall grosse Facsimiles der bischöflichen Zustimmung in Österreich. Wir denken, er wird sich zum Kaiser krönen lassen. Als Gesalbter des Herrn, christlich. Dabei ist mir zum erstenmal die Frage gekommen, wieso die Kaiserproklamation in Versailles (wo doch der erste * Wilhelm wirklich gläubig war) ganz ungeistlich erfolgte, rein als politischer Akt. Nicht die Antwort (W. fühlte sich von Gottes Gnaden wohl nur als preussischer König, der Kaisertitel war ihm eine peinliche politische Angelegenheit), nicht das interessiert mich hieran, sondern die Frage, auftauchend, nachdem ich das Faktum beinahe fünfzig Jahre als Selbstverständlichkeit hingenommen habe. Ich frage mich jetzt sooft nach Dingen (z.B. sprachlicher Natur), die mir 50 Jahre selbstverständlich waren. Hauptsache ist das Fragen, viel wichtiger und primärer als das Antworten. Hauptsache für die Tyrannis jeglicher Art ist das Unterdrücken des Fragetriebs. Und das ist so leicht zu machen. Wenn ICH, Professor usw., lebenslang auf Denken geschult, mir so viele und so naheliegende Fragen durch 50 Jahre nicht gestellt habe, wie soll dann das Volk aufs Fragen kommen? Man braucht es eigentlich gar nicht zum Gegenteil erst anzuhalten. –
    Am Donnerstag liessen wir vom alten * Prof. von Pflugk unsere Brillen nachprüfen. Wir waren lange nicht bei ihm, weil er nie eine Rechnung schickt. Er kommt uns immer mit geradezu herzlicher Freundschaft entgegen. Es war der Tag nach einer * Göbbelsrede in Dresden (Eroberer Berlins – unser Doctor – spricht vor 20 000 Volksgenossen – stürmischer Jubel. So und ähnlich in den berichtenden Schlagzeilen.) Pflugk warf einen Blick ins leere Wartezimmer, fasste uns dann beide an je einem Arm, bückte sich zu uns herab und flüsterte, ehe noch von irgendetwas anderem die Rede war: Es war ein Patient hier, der gestern bei Göbbels war. Mitten in der Totenstille des Zuhörens schrie einer: Wisst Ihr, was Ihr seid? Schurken seid Ihr, alle seid Ihr Schurken! Dann würgten ihm zwei Leute die Kehle zu und schleppten ihn heraus ... Um Gotteswillen nicht weitererzählen! – Am Abend erzählte ich es natürlich und natürlich ebenso flüsternd * Natcheff in der Leihbibliothek. Wir sind hier eine Hetzercentrale, sagte er, was meinen Sie, was hier alles erzählt wird! und gleich darauf zu einem eintretenden Kunden: Heil Hitler! – Pflugk klagte und schimpfte dann heftig. Man hat ihm nicht erlaubt, eine Einladung zum Ophthalmologencongress nach Kairo anzunehmen, man traut ihm nicht. Er höre und sehe so viel Scheussliches und so viel Unzufriedenheit. Ich sagte: Und Sonntag bekommen sie doch ihre fünfzig Millionen Stimmen. Er, mit Leidenschaft: Ich MUSS doch. Das ist es: alle müssen; die Hälfte ist dumm gemacht, und an das Wahlgeheimnis glaubt keiner, und alle zittern.
     

 
    Ostermontag, 18. April.
     
    Nach sehr langer Pause zwei Fahrten. Beide halb Vergnügen, halb, beinahe dreiviertel Pflicht und Anstrengung. Karfreitag am ersten und einzigen strahlenden Frühlingstag, nach Piskowitz, Mittags hin, zum Essen um 7 zurück. Das hübsche kleine * Mädelchen, im Januar geboren; Kaninchen, Tauben, Hühner, acht Ferkel, drei Zickelein, zwei Kühe, Bienenstöcke, Obstbäume. Aber die ländliche Tierliebe mit dem Blick auf das Schlachtmesser schätze ich nicht sehr. * Der Mann

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