Klemperer, Viktor

Oberst Franklin (Action of Aquila). 1 Sehr hübscher kleiner Roman aus dem amerik. Krieg zwischen Norden und Süden. (Beliebt seit der * Mitchell). Allen ist der Mann des Antonio Adverso. Gutes und Verfehltes geht bei ihm immer ineinander: in der Composition, in der Charakteristik, überall.
     

 
    23. Februar, Mittwoch.
     
    Entsetzliche Trostlosigkeit der Lage. Die Reichstagrede Hitlers war eine Kriegsdrohung (verstärktes Heer), über seinen Militärstaatsstreich verlor er kein Wort; in Österreich herrscht der Nationalsozialismus, und nicht nur dass alles still bleib[ b ]t, sondern die englische Politik wird herumgeworfen, * [E]den geht, * Chamberlain verhandelt 2 mit den triumphierenden Italienern, kündigt Verhandlungen mit Deutschland an, tritt den Völkerbund in den Hintern 3 und bekommt für diese prouesse im Unterhaus 330 Stimmen gegen 168.
    Aber manchmal sage ich mir: was würde für mich anders im vierten Reich, wie immer es beschaffen wäre? Wahrscheinlich würde die ganz grosse Einsamkeit erst dann für mich beginnen. Denn ich könnte nie wieder jemandem in Deutschland trauen, nie wieder ein Zusammengehörigkeitsgefühl irgend jemandem aufbringen nie wieder mich unbefangen als Deutscher fühlen. Unendlich gern zöge ich ins Ausland, am liebsten nach USA, wo ich mit Selbstverständlichkeit Fremder wäre. Es ist unmöglich; ich bin für den Rest meines Lebens an dieses Land und dieses Haus gebunden.
    Neulich ein Werbebericht der Wach- und Schliessgesellschaft. Aufzählung ihrer Taten im letzten Jahr: X Diebstähle verhindert, X Brände verhindert, X Straftaten zur Anzeige gebracht, eine Rassenschändung.
    Im Dix-huitieme: * Parny 4 ganz fertig; den grässlichen * Lebrun-Pindare 5 vorbereitet, den ich endlich in Berlin auftrieb (weder hier noch in Göttingen eine Ausgabe). Alles wird zu lang, und ich glaube ebensowenig an das Ende dieses Opus wie an das Ende des dritten Reichs. Aber an das Ende meines Geldes, daran muss ich wohl glauben. [D]iese letzten Wochen sind von Tag zu Tag unerträglicher geworden, und im März wird es uns noch enger gehen.
    Vorlesen: * Jalna III, Finch im Glück.
    Allertiefste Einsamkeit.
     

 
    1. III. 38
     
    Heute am Faschingsdienstag als Berliner Carnevalsfeier überreichte * Hitler in großer Feierlichkeit dem Generalfeldmarschall * Goering den Marschallsstab. Sie haben keinen Sinn für ihre eigene Komik. (Wie * Victor Hugo, 6 der dem Stenographen in der Kammer zuruft: Notieren Sie, man hat hier gelacht!) Ihre bewußte Komik ist Niedertracht gegen Wehrlose: hier in Dresden ist heute ein Faschingsumzug: Auszug der Kinder Israel. Wohl als Vorspiel zu der am 4. März beginnenden Propagandawoche (Versamlungen u. Märsche): Völkerfrieden oder Judendiktatur. – Wir machten am Sonntag nach monatelanger Pause eine kleine Fahrt, Richtung Versailleskreuz, bis hinter Radeberg; dort hing diese Aufschrift auf Leinewand quer über der Straße. (Es war übrigens noch winterlich kalt u. kahl.) – –
    Ich schrieb heute (Copie liegt bei) an * Grete über ihren Kudowaplan. –
    Ich wurde heute mit * Lebrun druckfertig.
     

 
    20. März, Sonntag
     
    Die letzten Wochen sind die bisher trostlosesten unseres Lebens. Der ungeheure Gewaltakt der Österreichannexion, 1 der ungeheure Machtzuwachs nach aussen und innen, die wehrlos zitternde Angst Englands, Frankreichs usw. Wir werden das Ende des dritten Reichs nicht erleben. Seit acht Tagen wehen die Fahnen, seit gestern klebt an jedem Pfeiler unseres Zauns ein breiter gelbe[r] Zettel mit Davidsstern: JUDE. Warnung vor der fahnenlosen Pestbaracke. Der Stürmer hat seinen üblichen Ritualmord ausgegraben; ich würde mich wahrhaftig nicht wundern, wenn ich nächstens eine Kinderleiche im Garten fände. – Ein paar Tage vor der Annexion kam ein Brief der * Wenglerin, von der ich bis zum Juli 42 die 12 000 M. Hypothek habe. Durch einen Fehler der Bank war die diesmonatige Zahlung um eine Woch[e] verspätet. Der Brief, ohne Anrede, drohte mit Rechtsweg und enthielt vorsorgliche Kündigung. Die Police, die zur Deckung diente, ist aufgebraucht: Das hat noch 4 Jahre Zeit, aber ich glaube nicht, dass man mich noch 4 Jahre hier sitzen lässt. Verlagsverträge für Nichtarier sind ausser Kraft gesetzt – warum soll nicht auch ein Hypothekenvertrag aufgehoben werden?
     

 
    30. März 38, Mittwoch Abend.
     
    Manchmal ziehe ich gerade aus der furchtbaren Trostlosigkeit der Lage einen gewissen Trost. Dies ist ein Gipfel; nichts Gutes und nichts Böses