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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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des Kommandanten in Gefangenschaft geraten waren, er hatte sich ergeben, um nicht vor ein Kriegsgericht gestellt zu werden; dann hatte man vereinbart, durch das rote Kreuz 300 Tote und 700 Verwundete aus dem citadellenartigen Seminar zu evacuieren, aber die Bolschewisten hatten ihr Wort gebrochen, und gleich nach Öffnung der Tore die Besatzung ermordet. Und alles das muss der Leser glauben, immer das, was an den einzelnen Tagen in ALLEN Blättern steht, denn es darf ja in allen Blättern immer nur das anbefohlene EINE stehen.
    Stillstes und immer noch stilleres Fürunsleben. * Johannes Köhler hat wahrhaftig nicht auf meinen Glückwunsch geantwortet. Schlechtes Wetter – nach dem Schneefall Föhnstürme und Regengüsse, dazu Geldnot, die jeden Benzinkauf zur Qual macht, halten uns zu Hause. * Eva bemalt Schränke, tischlert, handwerkert, als sässen wir für gesicherte Ewigkeit in unserm Häuschen; ich brüte den ganzen Tag über dem dix-huitieme, immer unter den alten Zweifeln, immer mit gleich langsamem Fortschritt, und doch auch mit gewissem Erfolg. Heute ist der Abschnitt * Colardeau- * Dorat in der Maschine fertig (von der Handschrift zur Maschine bedeutet immer noch Umarbeitung). Fehlt noch das Durchcorrigieren und das Anmerkungschreiben: etwa vier Tage. Dann werden also acht Maschinentextseiten reichliche drei Wochen gebraucht haben. Aber I can t help: sie sind gut und nicht nur von andern Leuten abgeschrieben.
    Die einzige Ausfahrt der letzten Zeit, von etlichen Bibliotheksfahrten abgesehen, ging zu * Frau Schaps: verspätete Neujahrsgratulation. Am Donnerstag sollen wir bei ihr essen. Abschied; danach [g]eht sie auf Weltreise mit ihren schon in der Schweiz befindlichen endgiltig emigrierten * * * * Kindern. 3
    Seit Wochen lese ich Abends vor: * Körmendy Abschied von gestern. Im Grunde die Tragoedie des in seinem Assimiliationswunsch getäuschten Juden. Dazu eine Elegie auf den Liberalismus. Das Buch ist aus Versehen in den Leihbibliotheken geblieben, aus kaum begreiflichem Versehen, wahrscheinlich durch seine Dicke geschützt – wer ackert tausend Seiten durch?
     

 
    31. Januar, Montag Abend.
     
    Den Brief, den mir der sonst so ruhige * Martin S. über die Ausweisung seiner kranken Tochter * Käthe, 4 ohne Grundangabe und ohne Aufschub, heute schrieb, lege ich als Dokument bei. Er schickte gleichzeitig die Festmarken zum 30. I. 38 (fünf Jahre drittes Reich. In der [Z]eitung stand: Symbol: der Jüngling trägt die Fackel der Ehre und der Wahrheit durchs Brandenburger Thor. – D[ie] Feier gestern hatte mich eh schon schwer deprimiert: ich glaube nicht mehr recht, noch eine Änderung zu erleben; nun dieser Brief. Beachte darin auch die plötzliche Ausschliessung der nichtarischen Ärzte aus den Privatkassen. Übrigens ist in den letzten Wochen der Antisemitismus wieder besonders im Vordergrund (das wechselt ab: mal die Juden, mal die Kathol[i]ken, mal die Protestantischen Pfarrer); gestern hier eine * Mutschmann-Aktion zur Entjudung des Weissen Hirschs.
    Von zwei Seiten, von * Berth. Meyerhof aus Berlin, von * Frau Lehmann aus Dresden hörte ich das Gleiche, verbürgt und nicht etwa als Witz: Bei Prüfungen in Schulen oder bei Lehrlingen wird die weltanschauliche Fallenfrage[] gestellt: Was kommt nach dem dritten Reich? Die Antwort muss sein: Nichts, es ist das ewige Deutschland. Es ist also in den zwei mir berichteten Fällen vorgekommen, dass die armen Jungen ganz unschuldig antworteten: Das vierte Reich. Beide fielen ohne Berücksichtigung ihrer eigentlichen Leistung glatt durch.
    I[n] der Kinowochenschau sieht man: Japanische Artillerie säubert erobertes chinesisches Gelände 1 von letzten Widerständen. Und, rührselig, Speisung zurückgekehrter chinesischer Flüchtlinge durch die Japaner in Shanghai, wo jetzt eiserne Disciplin herrscht. (Beg[l]ückte idyllische Gesichter essender Chinesenkinder). Die Propaganda arbeitet also ganz nach dem Schema des Ritterromans; der Japaner als Held und als gütiger Helfer und Friedenbringer. Genau so sahen eine Zeitlang die Bilder von der nationalspanischen Seite aus. Und die Chinesen werden nun auch mählich in Bolschewisten umgewandelt. Es wundert mich nur, dass sie noch nicht zu Juden geworden sind.
    Beim Abschiedsessen bei * Frau Schaps sagte neulich der alte * Amtsgerichtsrat Morahl, er lese principiell keine Romane, weil sie doch Lügen brächten (wahrhaftig, das sagte ein alter jüdischer Richter und sonst ganz netter Mann im Jahre 1938 mit

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