Klingenfieber: Roman (German Edition)
hatte er von einem Angehörigen des Hochadels nun wirklich nicht erwartet.
Die Kutsche fuhr nicht unter die Zeltstadt, sondern bis zur Kutschenstation, wo die Reisenden ein stabiles Obdach aus weißem Lehm vorfinden würden. Erenis jedoch hielt es für ratsam, nicht bis dorthin mitzufahren. Wollten der Rittrichter und seine Schergen sich nämlich die Mühe ersparen, sie im Trubel der Festspielstadt aufspüren zu müssen, war die Station der naheliegendste Ort für einen Hinterhalt. Selbst wenn ihre Pferde nirgends zu sehen gewesen wären, hätte man immer noch nicht ausschließen können, dass die Verfolger ihre Reittiere anderswo untergestellt hatten und sich nun mit ihren Schusswaffen im Inneren der Station verborgen hielten. Die Klingentänzerin wollte die übrigen Reisenden nicht über Gebühr in ihre Schwierigkeiten mit hineinziehen. Also ließ sie sich und Stenrei am Rande der Zeltstadt absetzen.
Der Graf übergab Stenrei ein kleines Schreiben, in dem er diesem die Volljährigkeit bestätigte, und zwinkerte ihm dabei schelmisch zu. Der Abschied von den anderen Reisenden war höflich, aber eher steif. Einzig Elirou ließ sich zu zwei warmen, festen Umarmungen hinreißen. Die Tempelschwester betete unablässig, und der Weinhändler starrte ein letztes Mal bedauernd auf Erenis’ eng verschnürte Brüste.
»Und?«, fragte Stenrei, als sie in das nach Gewürzen und Höckerpferddung riechende Zeltlabyrinth eintauchten. »Werden wir beobachtet?«
»Wie kommst du darauf?«
»Wenn ich dieser Rittrichter wäre, hätte ich mich auf einem dieser Türmchen verschanzt und nach der Kutsche Ausschau gehalten und nach nichts sonst.«
»Schlaues Kerlchen. Aber wie auch immer: Hier unter den Planen nutzt ihm das nichts mehr.«
»Ich will zum Oval, mir einen guten Platz an einer Wand sichern. Ich werde dann dort schlafen. Wie finden wir uns morgen nach dem Volkskampf wieder?«
»Vielleicht werde ich dir zuschauen. Hektei wird ebenfalls dort irgendwo sein, ich muss also ohnehin im Bereich der Kampfbahn nach ihr suchen.«
»Aber du wirst nicht einfach ohne mich abhauen?«
»Warum sollte ich?«
»Versprichst du’s?«
»Jetzt klingst du wie ein kleiner Junge und schickst dich doch an, dein erstes Turnier zu bestreiten.«
»Ich will nur sichergehen. Keiner von uns kennt diese Stadt, und es herrscht ein unglaubliches Durcheinander. Lass uns diesen Turm dort als Nottreffpunkt ausmachen.« Durch einen Schlitz zwischen zwei Zeltbahnen war ein schlanker Turm mit grünspanfarbenem Dach zu erkennen.
»Die Türme sehen alle gleich aus. Treffen wir uns lieber an der Kutschenstation. Wir müssen ja auch wieder hier weg.«
»Aber die Kutschenstation …«
»Bis dahin wird dieses Problem gelöst sein. Vielleicht lasse ich diesen hartnäckigen Kerl ein weiteres Mal leben, weil die Aufmerksamkeit, die er mir schenkt, mir Vergnügen bereitet, aber seine fünf Handlanger werden aus Brendin Grya nicht mehr herauskommen.« Erenis leckte sich die Lippen, als dächte sie über eine schmackhafte Mahlzeit nach.
»Vielleicht sollte ich doch besser in deiner Nähe …«
Jetzt musste sie lachen. »Glaub mir, ich komme auch ohne dich klar.«
»Aber an der Kutsche …«
»An der Kutsche mussten wir vier Seiten verteidigen, da konnte ich jede Unterstützung gebrauchen. Auf mich allein kann ich jedoch ganz gut selbst aufpassen.«
Stenrei grummelte etwas, dann schlug er ohne sie den Weg zum Oval ein. Das Schreiben eines echten Grafen hielt er dabei in der Hand wie einen Schlüssel, der ihm das Reich der Erwachsenen für immer eröffnen würde.
Jedes Mal, wenn er darüber nachdachte, an das Erwachsensein und an das Schwertführendürfen, das damit einherging, sah er den Waldmann wieder auf sich zukommen.
Der Waldmann hatte gelächelt , das war das Schlimme daran gewesen. Mehrere Nächte lang hatte Stenrei über diesen Gesichtsausdruck nachgedacht, aber nun war er sich sicher, dass es ein Lächeln gewesen war. Deshalb hatte diese Erinnerung den rutschenden, reißenden Kopf des Büttels von der belagerten Hütte schon beinahe vollständig verdrängt. Der Waldmann hatte ihn angelächelt wie einen Verbündeten, als wollte er sagen: »Hallo, mein Freund, nun schauen wir uns mal beide das Innere der Kutsche an, ja?«
Bis heute war Stenrei sich gar nicht darüber im Klaren, ob die Waldleute den Passagieren überhaupt etwas hatten antun wollen. Sie hatten den Kutscher und die beiden Angeheuerten getötet, sicherlich. Aber das vielleicht nur,
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