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Klippen

Klippen

Titel: Klippen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olivier Adam
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wahre Natur ihrer Beziehung meiner Kenntnis. Niemand weiß, was zwei Menschen miteinander verbindet, auch sie selbst wissen es oft nicht und kommen erst dahinter, wenn sie sich verlieren.
    An einem Tag im Mai bezogen wir ein winziges Langhaus, nur wenige Schritte von der menschenleeren, windgepeitschten Heide, aus der der Strom und die Vögel kommen. Claire hatte Tränen in den Augen, und in mir löste sich endlich etwas, das offenbar weiterleben wollte. Wir sahen uns an wie zwei staunende Kinder, und ein anderes Leben begann.
     
     
     
     
     
     
    Eine Woche nach dem Aufwachen kam Antoine nach Hause. Zwei Monate sagte er kein Wort. Bis zu den großen Ferien. Trotzdem ging er in dieser Zeit zur Schule. Er nahm nicht mit mehr Eifer am Unterricht teil als vorher, aber man ließ ihn in Frieden. Seine Klassenkameraden waren vorgewarnt, und all dies umgab ihn mit einer mysteriösen, respektvollen Aura, die sich im Lauf der Jahre noch verstärkte. Zu seinem Status als Halbwaise kamen das Rätsel seines Schweigens, der entsetzliche Selbstmord seiner Mutter, der grauenhafte Ruf unseres Vaters sowie eine ganze Sammlung unterschiedlichster Missetaten hinzu: Schulverweise, wiederholtes Nachsitzen, Prügeleien, unentschuldigtes Fernbleiben vom Unterricht, Beschimpfung des Lehrkörpers, Mitfuhren sowie gefährlicher Einsatz eines Teppichmessers, von Zigaretten, Alkohol und Joints auf dem Schulgelände, Einschlagen von Fensterscheiben der Bibliothek, Körperverletzung an einer Aufsichtsperson, Diebstahl im Büro des Betreuers … Angereichert wurde alles noch durch eine Handvoll Rekorde in Schwimmen und Leichtathletik sowie ein paar unerwartete Geistesblitze in Geschichte und Französisch. Einige Lehrer sahen ihn scheel an und betonten, sie ließen sich von seiner kleinen List genauso wenig hinters Licht führen wie sein Vater, aber im Großen und Ganzen zeigten alle Verständnis und Geduld. Antoine war von der mündlichen Beteiligung am Unterricht freigestellt, und es wurde ihm nie verwehrt, das Krankenzimmer aufzusuchen. Von meinem Klassenzimmer aus sah ich ihn dann durch das Fenster, auf das die Sonne knallte, quer über den Schulhof gehen, sich eine Zigarette anzünden und den Rauch in langen Schwaden zum Himmel blasen. Auch meine Sitznachbarn bemerkten ihn, und ein nervöses Lachen ging durchs Klassenzimmer. Ich hob die Hand und schützte Kopfschmerzen vor. Madame Dausse schüttelte den Kopf, und obwohl sie nichts sagte, sah ich ihr an, dass sie mich zu Recht verdächtigte, die Situation auszunutzen. Ich war elf und meine Mutter war tot. Rückblickend sage ich mir, dass ich in all der Zeit eigentlich nichts getan habe, was meinem Schmerz angemessen gewesen wäre. Mein Bruder übernahm das. Die Gänge waren leer, und im Vorbeigehen sah ich durch die Scheiben in den Türen eifrige oder auch verträumte Gesichter, über kleinkarierte Doppelbögen gebeugte Rücken, auf die mit Kreidegekritzel bedeckte grüne Tafel gerichtete Blicke. Ich verließ den nachtblauen Fertigbau und holte meinen Bruder bei den Fahrradständern ein. Verbogene Räder waren an rostige Pfosten gekettet. Antoine erwartete mich dort und trat die Zigarette mit der Schuhspitze aus. Bevor wir nach Hause gingen, machten wir manchmal noch einen kleinen Abstecher. Hinter dem Schulgebäude, zwei Schritte von der Turnhalle und dem nicht bewachten Zaun entfernt, über den man nur zu springen brauchte, um draußen zu sein, glänzten die Autos der Lehrer. Antoine suchte sich seine Opfer nicht aus, er ging aufs Geratewohl vor. Ich stand Schmiere, während er ein Teppichmesser aus der Tasche zog und es mit trockenem Geräusch in den Reifen eines blauen Renault 20 oder eines schwarzen Golf stieß. Manchmal schrammte er auch mit seinem Schlüsselbund über den neuen Lack oder warf mit einem Stein eine Scheibe ein.
    Wir gingen nie sofort nach Hause. Die Stadt war wie ausgestorben, ein Schlafsaal am helllichten Tag. Busse, in denen niemand saß, fuhren vorbei, die spärlichen Boutiquen langweilten sich unendlich durch den menschenleeren Nachmittag. Wir kamen an unbewohnten Häusern, verwahrlosten Tennisplätzen, Gärten mit verdreckten Hunden vorbei. Mein Bruder schwieg beharrlich, ab und zu verständigten wir uns durch Zeichen. In seiner Gegenwart bekam auch ich den Mund nicht auf, es war, als hätte er mich angesteckt. Nackt lag der Friedhof im Sonnenlicht. Kleine alte Männer standen andächtig vor staubbedeckten Grabplatten und Blumentöpfen mit welken Malven. Das

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