Klippen
über die Alkoholmengen verloren, die ich in mich hineinschütte und die mich auf den Beinen halten, das weiß ich, sie fangen mich auf und ziehen mich wieder hoch, schützen und betäuben mich. Auch zu meinen nächtlichen Touren hat sie mich nie befragt. Nicht einmal am frühen Morgen, wenn ich mich ausziehe und meinen durchgefrorenen Körper gegen ihre warme Haut presse. Sie geht mit dem Mund ganz dicht an meine Lippen heran, atmet meinen Geruch nach Tabak, Farn, Salz und Wodka, zieht mich in sich hinein, und wir schaukeln dem beginnenden Tag entgegen.
»Ich gehe wieder ins Bett.«
Sie legt die Hand an meine Wange, dann verschwindet sie im Zimmer und legt sich wieder zu Chloé, die im Schlaf nach etwas Milch verlangt.
Claire wiegt sie, und ihr Singsang geht im Wellenrauschen und Kieselgeklicker unter.
Zwei Jahre vor Chloés Geburt verließen wir Paris und unsere schäbige Wohnung mit den vergilbten Wänden und dem unebenen orangefarbenen Terrakottaboden, den Fenstern zum Hof und, im Haus gegenüber, den stummen Scheiben, hinter denen schemenhafte Gestalten zu sehen waren, Körper und Gesichter, die uns mit der Zeit vertraut geworden waren. Ich hatte ganze Nächte damit zugebracht, ja, Tage damit vergeudet, sie zu beobachten, ihre kleinen Marotten und sich wiederholenden Gesten kennenzulernen. Die Alte im vierten Stock ging gegen acht Uhr zu Bett. In einem rosa Nachthemd und auf den Haaren eine Art Haube, las sie, den Pudel zu ihren Füßen, bis spät in die Nacht, und ich schlief vor ihr ein. Claire schnarchte, und ich fand das bezaubernd, alles an ihr rührte mich, ihr strahlendes Gesicht, ihr kristallklares Lachen, ihre Art, auf mich aufzupassen und mir alles nachzusehen, ohne sich je zu beklagen oder etwas im Gegenzug zu erwarten. Nach Léas Tod war ich monatelang in Lethargie versunken, ich kam mir vor wie ein Parasit, wie eine lästige Larve, mein Blut ertrank im Alkohol, und alle möglichen Psychopharmaka zirkulierten darin, es kam vor, dass ich den ganzen Tag den Mund nicht aufmachte, aber Claire sagte nichts. Sie kam spät aus der Arbeit, und wir aßen bei Kerzenschein zu Abend. Wir liebten uns auf dem Sofa, es lief laute Musik, und ihr Mund war so frisch. Sie konnte sich vor Müdigkeit nicht auf den Beinen halten, ich stellte die Platte, die gerade lief, leiser, sie schlief, und ich hörte mir ein trauriges, langsames Lied nach dem anderen an. Meistens war mein Kopf völlig leer, und ich konnte an nichts denken, also drückte ich die Stirn an die kalte Fensterscheibe und beobachtete meine Nachbarn, den Studenten im fünften Stock, der, von unwirklichem Licht umgeben, auf seinen Computer starrte, den kleinen alten Mann im dritten, der in Unterhosen eine anthrazitgraue Hose bügelte und dessen von dicken lila Adern durchzogene dünne Beine zu sehen waren. Die junge Frau aus dem zweiten, die mit ausdruckslosem Blick in der Küche rauchte, vor sich auf dem Tisch eine aufgeschlagene Zeitung. Früher am Abend hatte ich sie gesehen, wie sie neben einem Kind im Pyjama und mit vom Baden nassem, zurückgekämmtem Haar saß und mit ihm die heiße Suppe löffelte, wobei sich die beiden ab und zu anlächelten.
Ich schlief ein, während draußen allmählich der morgendliche Lärm anschwoll. In einer Art Halbkoma und seltsam verfroren hörte ich, wie Claire aufstand, die Dusche anstellte und sich Kaffee machte. Dann schnappte in der Stille die Tür zu, und ich versank in traumlosen Schlaf.
So sah unser Leben in der ersten Zeit aus. Ich weiß nicht, woher Claire die Kraft nahm, mich über Wasser zu halten, mich mit ihren nachsichtigen, gerechten, liebevollen Blicken zu verwöhnen, aus welchen verborgenen Reserven sie ihre Geduld, ihre Intelligenz, ihren Frohsinn speiste. Wir verließen Paris, und es war, als würden wir aus einer toten Stadt fliehen. Alle Menschen, denen ich dort begegnete, sahen aus wie meine Nachbarn: müde, auf die Wiederholung alltäglicher Verrichtungen reduzierte Schatten. In der Stadt hatte ich das Gefühl zu ersticken, und jede ihrer Straßen schien mir mit dem Brandeisen der Erinnerung und des Verlustes gezeichnet. Claire sagte immer wieder, wir sollten fortgehen, wir sollten uns retten. Sie wollte das Meer riechen, jeden Tag, jede Minute, wann immer ihr der Sinn danach stand. Auch sie hatte ihr Päckchen zu tragen. Léas Tod ging ihr sehr nahe, obwohl sie nie ein Wort darüber verlor, Léas Tod hatte sie stärker mitgenommen, als ich vermutet hatte, und noch heute entzieht sich die
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