Klippen
leiseste Geräusch von draußen, das leiseste Lachen brachten ihn aus der Fassung, der leiseste Schrei tat ihm in den Ohren weh, zwei Jungen, die die Straße hinunterliefen, waren zwangsläufig Rotzlöffel, ein Mädchen, das einen Jungen küsste, war eine Schlampe, eine Hure, wenn der Junge ein Schwarzer oder Araber war. Musik war zwangsläufig die Musik von Wilden oder Negermusik, Fernsehsprecher waren Schwachköpfe, Journalisten gekauft, Beamte Nichtstuer, Politiker Diebe. Die Welt war ein einziges Chaos, in dem die Werte den Bach runtergingen, die Einwanderung war eine schleichende Bedrohung, die Jugend eine Plage. Musiker und Künstler waren durch die Bank Drogensüchtige Arbeitslose Parasiten Homosexuelle Geistesgestörte. Jeden Tag um sechzehn Uhr schaltete mein Vater RTL ein und sah sich Große Köpfe an. Jeden Morgen sprang das Radio an, und noch heute, wenn ich zufällig die Erkennungsmelodie dieses Senders höre, läuft mir vor Entsetzen und Ekel ein Schauer über den Rücken.
Wir durften nicht atmen uns nicht rühren nicht sprechen nichts fühlen. Wir durften nichts brauchen, weder Taschengeld noch Trost, zärtliche Gesten, ein Lächeln oder einen Rat, wir durften nichts erwarten außer Schläge, eine Tracht Prügel oder Ohrfeigen, bei denen er richtig hinlangte, aber manchmal gab er sich auch damit zufrieden, uns am Kragen zu packen, den Arm zu verdrehen, an den Haaren zu ziehen und uns in unser Zimmer oder hinauszuwerfen. Dann lagen wir tränenüberströmt auf dem Boden oder mitten im Winter im gefrorenen Garten mit nichts als unserem Schlafanzug oder einem einfachen T-Shirt.
Meistens aber fing mein Vater an zu schreien und drohte, uns aufs Internat oder zur Armee zu schicken, uns zu drillen und beizubringen, worauf es im Leben ankommt. Er versprach uns Schläge mit dem Gürtel, die wir verdient hätten und die schon sein eigener Vater verabreicht habe, wenn er oder einer seiner Brüder oder Schwestern bei Tisch zu tuscheln gewagt hätte. Dann ohrfeigte er uns, und wir hatten es stoisch hinzunehmen. Traten uns dummerweise Tränen in die Augen, wurde mein Vater noch einen Tick lauter und bombardierte uns mit Schimpfwörtern, er nannte uns Homos und Waschlappen und sagte immer wieder, wie er sich für uns schäme und wie leid wir ihm täten.
Fast täglich explodierte mein Vater grundlos, wegen eines Zettels, den er nicht fand, eines Schlüsselbunds, das er angeblich verlegt hatte und das in seiner Tasche war, Schuhen, die in der Diele herumlagen, eines Kratzers auf den Fliesen, eines nicht gründlich gespülten Glases, eines ungemachten Bettes, einer platt getretenen Blume. Nachdem er uns gezüchtigt hatte, verließ er das Haus, und je nach Laune fuhr er mit dem Auto weg oder hackte im Garten stundenlang Holz. Wir warteten wie versteinert in Antoines Zimmer, während das Brummen des auf vollen Touren laufenden sich entfernenden Motors oder das laute Schnaufen unseres Vaters und das sich wiederholende trockene Geräusch des Axthiebs zu uns drangen. Anfangs hatten wir noch Angst, er könnte sich mit der Axt verletzen oder einen Autounfall haben, aber mit der Zeit wünschten wir uns immer mehr seinen Tod. In solchen Momenten erschien uns unsere Mutter am häufigsten, ich hörte ihre Stimme, und Antoine sah mich plötzlich an, oder es war umgekehrt. Wir mussten nicht miteinander reden, um zu wissen, dass der andere sie auch gehört hatte.
Ich hatte keine Ahnung, wohin mein Vater mit ausgeschaltetem, mit einer wasserdichten schwarzen Haube abgedecktem Taxizeichen fuhr. Lange stellte ich mir vor, dass er zum Périphérique und im Kreis um Paris herumfuhr, ohne die Ringautobahn zu verlassen, wobei die Schilder und roten Leuchtreklamen im Scheinwerferlicht vorbeizogen. Später redete ich mir ein, dass er in seinen Wutanfällen Prostituierte in Paris oder am Waldrand von Senart aufsuchte und seinen Hass zwischen ihren Schenkeln abbaute. Heute weiß ich nicht, was ich denken soll. Mir ist nur das Gefühl geblieben, dass zwischen seiner Abfahrt und seiner Rückkehr die Zeit stillstand, und dann flog plötzlich die Tür auf Kälte strömte ins Haus, und seine Stimme brüllte: »Ich will nichts von euch hören«, obwohl wir keinen Mucks von uns gaben, nicht einmal beim Atmen, denn wir hatten gelernt, das Geräusch zurückzuhalten, umzuwandeln, bis zur absoluten Lautlosigkeit zu unterdrücken.
In dieser Zeit waren mein Bruder und ich so gut wie unzertrennlich. Nach der Schule holte er mich
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