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Klippen

Klippen

Titel: Klippen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olivier Adam
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schmucklose Grab unserer Mutter befand sich in einer Nische, wir starrten es mit gefalteten Händen an, und Antoine murmelte ein paar unverständliche Worte.
    Wir zögerten unsere Heimkehr so lange wie möglich hinaus. Unser Vater würde erst nach Einbruch der Dunkelheit zurückkommen. Antoine setzte heißes Wasser auf und kochte Gemüse. Wir legten Mamans Platten auf, bevor er kam. Später herrschte absolute Stille, und mein Vater, der am Tischende saß und freudlos auf seinem Fleisch herumkaute, redete kein Wort mit uns, sondern schüttelte, wenn sein Blick sich mit Antoines kreuzte, nur bekümmert den Kopf und bellte: »Fällt dir nichts Besseres ein, um dich interessant zu machen? Ich sollte dir links und rechts eine verpassen, dann findest du deine Sprache bestimmt ganz schnell wieder.«
    Nach dem Essen deckte ich den Tisch ab, und mein Vater setzte sich vor den Fernseher. Er duldete keinen Lärm und döste nach einer Weile immer ein. Sobald ich das Geschirr abgetrocknet und weggeräumt hatte, ging ich in Antoines Zimmer. Er saß mit dem Rücken zu mir am Schreibtisch, und ich legte ihm die Hand auf die Schulter. Da schwang er auf seinem Drehstuhl herum und lächelte mir mit tränennassen Augen zu. Nebeneinander auf dem Bett liegend, lasen wir bis spät in die Nacht Comics, hörten leise Radio, verfolgten blind obskure Fußballspiele, in denen Lens gegen Laval antrat.
    Dann kam der Sommer, und als wäre nichts gewesen, fand mein Bruder seine Sprache wieder. Es geschah so plötzlich und selbstverständlich, dass ich mich nicht an die genauen Umstände dieses Wunders erinnere. Ich glaube, er bat mich bei Tisch um das Salz, und als ich es ihm reichte, entfuhr ihm ein argloses »danke«, auf das nicht einmal mein Vater reagierte.
     
     
     
     
     
     
    Eine bedrohliche, eisige Zeit begann. Vier Jahre lebten wir in einer beklemmenden Stille, die durch nichts gestört werden durfte. Vier Jahre geisterten wir wie Gespenster durch unser Haus und sprachen bei den Mahlzeiten, die wir vor laufendem Fernseher einnahmen, kein Wort. Vier Jahre flohen wir vor der Wut unseres gereizten Vaters in unsere Zimmer und blieben dort auch nach der Waffenruhe, wenn er im Wohnzimmer längst vor sich hin schnarchte. Er schlief immer über einem Film oder einem Varieté mit Patrick Sebastien Jean-Pierre Foucault Michel Drucker ein. Wir unterhielten uns im Flüsterton, und heute weiß ich nicht mehr, welche Geheimnisse wir tuschelnd austauschten. Manchmal erwischte uns unser Vater, und dann brüllte er mich an, ich solle mich in mein Zimmer verziehen, sonst werde er mir auf der Stelle eine Tracht Prügel verpassen oder den Bauch aufschlitzen. Ich habe keine Ahnung, was ihn an uns störte. Ihm wäre es wahrscheinlich am liebsten gewesen, wir wären tot. Tot und ausgestopft.
    Wir durften nie Krach machen oder die Stimme heben, wir durften nie lachen, herumtoben, uns kitzeln oder durchs Haus jagen, wir durften nie Musik hören oder mit ihm reden, egal, worüber. Wir durften nie länger als drei Sekunden warten, bis wir einen seiner Befehle ausführten, wir durften ihm nie antworten, nie anderer Meinung sein, überhaupt eine Meinung haben. Wir durften nicht im Garten spielen, seinen Rasen nicht betreten, den Ball nicht in seine Blumen schießen. Wir durften seine Stereoanlage nicht anrühren und vor allem keinen Teller und kein Glas zerschlagen, unsere Schritte durften oben nicht zu hören sein, wenn er unten im Wohnzimmer war. Wir durften keine Mädchen und auch keine Freunde mit nach Hause bringen, wir durften keinen Umgang mit einem schwarzen, einem Mischlings-oder einem arabischen Kind haben und auch keinen mit den Kindern aus der Siedlung. Wir durften Maman nie erwähnen oder ihre Fotos anschauen oder Fragen über sie stellen. Wir durften nicht krank werden oder ihm auf irgendeine Weise auf die Nerven gehen. Wir durften vor ihm nicht heulen, selbst dann nicht, wenn er uns geohrfeigt hatte, und uns nie gegen seine Schläge wehren oder uns gegen sie schützen. Wir durften ihm nichts von uns erzählen, wir durften nicht aufmucken, wenn es darum ging, einzukaufen, abzuwaschen, den Rasen zu mähen, staubzusaugen, den Müll rauszubringen oder ihn in den Supermarkt zu begleiten. Wir durften keine Witze erzählen oder losprusten, wenn wir uns ansahen, wir durften uns gegenseitig nicht ärgern, nicht piesacken oder in Wut versetzen. Wir durften nicht über die Außenwelt, die Freunde, die Schule reden. Er ertrug nicht den leisesten Luftzug; das

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