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Klippen

Klippen

Titel: Klippen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olivier Adam
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neunzigprozentigem Alkohol und Reinigungsmittel, mit den überarbeiteten Gesichtern barscher Krankenschwestern, sechs Wochen in dem langgestreckten Gebäude hoch über den zum Fluss hinunter gestaffelten Häusern, über der trägen bronzefarbenen Seine, über den Scheinwerfern der Schlangen von Autos, die Stoßstange an Stoßstange am Stadtrand entlangkrochen. Sechs Wochen, in denen die Sonne über den mit Häusern und Kästen wie Legosteine bebauten fernen Hügeln unterging. Der Himmel nahm fahlrote oder zitronengelbe, purpurviolette oder phosphoreszierende Färbungen an und bekam gewaltige Risse, wenn ihn die Kondensstreifen der vom nahe gelegenen Flughafen Orly startenden Flugzeuge durchzogen. Mein Bruder schlief bewegungslos, die Decke über den nackten Oberkörper gezogen und in ein grundloses, unerklärliches Koma versunken, an dem sämtliche Diagnosen, Prognosen und Analysen der Ärzte scheiterten, die mit ihren Kitteln, ihrem Jargon, ihren angegrauten Schläfen, ihrer gepflegten Haut und ihrer Aura des Erfolgs so eindrucksvoll waren.
    Eines Abends wachte mein Bruder auf und zu meiner großen Überraschung war dieses Erwachen nicht seltsamer oder ungewöhnlicher, als wenn Augen sich öffnen und sich auf das richten, was sie umgibt, die Wände und das Fenster, die sich wiegenden Bäume, der ferne Himmel, an jenem Abend ein rotes und cremigblaues Craquelé, die Gebäude und schließlich ich in dem großen Sessel unter dem an der Wand hängenden Fernseher. Er lächelte mir matt zu und schloss noch einmal kurz die Augen. Als er sie wieder öffnete, war ich neben ihm.
    »Du hast uns was vorgespielt, stimmt’s? Du hast gar nicht im Koma gelegen, nicht wahr?«
    Benommen drehte er mir den Kopf zu. Er sah mich lange an, heftete seine Augen ohne Vorwurf, ohne Ironie, ohne Traurigkeit auf mein Gesicht. Allein Müdigkeit und Verlorenheit sprachen aus ihnen. Mit belegter Stimme fragte er mich, wo Maman sei. An seinem Ausdruck erkannte ich, dass er nach den sechs außerhalb der Welt verbrachten Wochen von ganzem Herzen hoffte, nur schlecht geträumt zu haben. Er hoffte, die Abwesenheit und das schwarze Loch, in das er gestürzt war, hätten alles ausgelöscht, alles reingewaschen, hoffte, die Welt sei wie neu, alles wie früher, unsere Mutter am Leben und nicht von den Klippen gesprungen. Ganz langsam sprach ich die unumstößlichen Worte aus: »Maman ist tot.« Und das Gesicht meines Bruders bedeckte sich mit Tränen.
    Ich benachrichtigte nicht die Krankenschwestern. Ich blieb mit meinem Bruder allein in dem Zimmer mit den lackierten Wänden, wir waren zwei Waisen inmitten eines riesigen Krankenhauses, einer Ödnis aus Hügeln, Bauten und sich am Himmel kreuzenden Flugzeugen, aus Reihenhaussiedlungen, riesigen Parkplätzen und Schienennetzen. Ich zog die Schuhe aus und legte mich zu ihm ins schmale Bett. Er wollte mich umarmen, aber er war zu schwach, seine Glieder waren kraftlos, sein Körper ausgemergelt, an seinem eingesunkenem Bauch traten die Rippen hervor.
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
    II
     
    Alle Lichter sind aus
     
     
     
     
     
     
    Ich zünde noch vier Kerzen an. Ich stelle sie auf den niedrigen Plastiktisch. Die Flammen flackern ein wenig, drohen jeden Augenblick auszugehen. Es ist ein billiges Ritual, eine lächerliche Zeremonie, mein kleines Arrangement mit den Toten, mit meiner dort hinten, am Ende meines Blicks hinabgestürzten Mutter. Der Strand liegt verlassen da, die Strahler an den Klippen wurden soeben ausgeschaltet. Jetzt sind sie nur noch eine kaum erkennbare Masse, schwarz vor dem Schwarz der Nacht, einander überlagernde Texturen, Baumwolle auf Seide.
    Die Glastür öffnet sich einen Spaltbreit, und Claires Gesicht erscheint. Sie fröstelt und reibt sich leicht die vor der Brust verschränkten Arme. Ihr Gesicht leuchtet im unvollkommenen Halbdunkel, ihr Nachthemd umweht ihren vollen und doch leichten Körper. Sie bückt sich zu mir herunter und küsst mich.
    »Du schläfst nicht?«
    »Sie haben gerade das Licht an den Klippen ausgeschaltet.«
    Sie schiebt ihre Zunge zwischen meine Zähne, und ich lasse meine Finger über ihren Hintern wandern. Meine Hände sind kalt, und sie erschauert. Ich schlage ihr vor, einen Schluck Whisky zu trinken, sie wirft einen Blick auf die halb leere Flasche. Sie sagt nichts. Sie ist schon so lange an meiner Seite, und noch nie, nicht ein einziges Mal in all den Jahren hat sie auch nur ein Wort

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