Klippen
träge Meer unterhalb der dunklen Felsen, das zu dieser Stunde anthrazitgrau war. Der Frühling ging zu Ende, und meine Mutter machte noch einen Schritt, wie eine Gummipuppe schlug ihr Körper bei Ebbe auf mit zerschmettertem Schädel und Leib blieb sie am Fuß der Klippen liegen, von schwarzem Sand, winzigen Kieseln, Muscheln und Glimmer bedeckt.
An die Zeit davor habe ich keine Erinnerung. Weder an meine Mutter noch an mich selbst. Von meiner Geburt bis zu meiner ersten Erinnerung sind neun Jahre verstrichen, ohne eine Spur zu hinterlassen. Und bis zu Mamans Tod ist alles verschwommen und unartikuliert. Manchmal frage ich mich, ob sich alles, was ich vergessen habe, irgendwo eingenistet hat. Ob all die Ereignisse, Wörter, Gefühle und gesammelten Gesten einen Teil von mir ausmachen, eine Art Fundament für mich bilden, oder ob ich auf dem Nichts, auf einem wegsackenden Boden aufgewachsen bin. Ich besitze Dutzende Fotos und ein paar Spulen mit Super-8-Filmen, auf denen ich als Kind zu sehen bin und auf denen sie in einer Weise zu sehen ist, wie ich sie nie erlebt habe. Strahlend und aus vollem Hals lachend. Uns, mit einer Wasserflasche bewaffnet, durch den Garten jagend oder, in einen Pareo mit orangefarbenen Blumen gehüllt, auf der Terrasse eines Ferienhauses tanzend. Sie wirbelt leichtfüßig in der Sonne herum, raucht am Fenster ihres Zimmers oder hinter dem Lenkrad eines Autos, ein Tuch ins Haar geknotet und eine Brille mit getönten, die Augen verbergenden Gläsern auf der Nase. Ich selbst habe einen mächtigen hellblonden Schopf und ziehe meistens einen Flunsch. In kurzer Frotteehose und orangefarbenem T-Shirt, das meinen Bauch entblößt, streichle ich einen großen rotbraunen Hund, esse mit den Fingern Pommes frites und starre, von der Sommersonne geblendet und in dem Glauben, dass mein Vater die Kamera hält, ins Objektiv. Antoine und ich wälzen uns im Gras, stürmen mit Klee und Gänseblümchen durchsetzte Hänge hinunter. Unter einem großen Kirschbaum mimen wir Musiker, Federballschläger dienen uns dabei als Gitarren. Auf dem Wohnzimmerteppich salutieren wir kerzengerade und mit roten Plastiksieben auf dem Kopf wie Soldaten. Ich könnte die Aufzählung dieser tausendfach betrachteten Bilder fortsetzen, Bilder einer Kindheit, die ich nicht als meine kenne, Spuren eines verschollenen Lebens. Ich sehe mir die Fotos an, und ich habe diese lebhafte, ausgelassene Mutter nie kennengelernt, sie könnte die Mutter eines anderen sein. Und dieser schmollende Bengel, der sich immer in den langen Kleidern seiner Mutter versteckt oder neben seinem Bruder steht, einer grinsenden Bohnenstange mit braunem Haar, könnte genauso gut nicht ich sein. Man könnte mir Millionen Fotos eines anderen schmollenden blonden Bengels zeigen, der mir ähnlich sieht, sie wären genauso echt und überzeugend wie die, die ich besitze, und ich könnte sie genauso gut als einzigartige, unwiderlegbare Zeugnisse meiner Kindheit anführen.
Von den Jahren vor dem Tod meiner Mutter ist mir nur eine Flut verschwommener Bilder geblieben, die größtenteils nach Regen und feuchter Erde riechen und mich zu dem Haus zurückführen, in dem wir vier wohnten, in dieser trostlosen, gesichtslosen, wenige Kilometer von Paris zwischen der Seine und dem Wald gelegenen Stadt ohne Mitte noch Rand. Ein Haus, dicht an dicht mit anderen, gleich aussehenden Häusern, die gleichen orangefarbenen Ziegeldächer, die gleichen Natursteinmauern, die gleichen Garagen aus unverputzten Hohlblocksteinen, vor denen identische Autos parkten. Ich lebte bis zu meinem siebzehnten Lebensjahr dort, und wenn ich daran zurückdenke, fallen mir immer als Erstes die regennassen Straßen im November ein und gleich darauf der Geruch nach Rauch, feuchtem Gras und matschigem Laub, das Dröhnen der Rasenmäher im Frühling, die grauen Hochhäuser, die ganz in der Nähe den künstlichen See überragten, die von Reklametafeln gesäumte Staatsstraße, die Ketten von Scheinwerfern und diese ganze unscheinbare, austauschbare Gegend, die jemandem, der nie dort gelebt hat, nichts sagt. Der S-Bahnhof und das Haus der Jugend, das Krankenhaus und der Intermarché , der Parkplatz und die räudigen Grünflächen in der Siedlung Youri-Gagarine, die Bar des Wettbüros, das Arbeitsamt, das Kino, der Schulhof und die Kreidespuren auf den Fassaden. Die Siedlungen mit den Reihenhäusern und kurz geschorenen Rasen, der mit dürren Bäumen und
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