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Kloster Northanger

Kloster Northanger

Titel: Kloster Northanger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Austen
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leben! Bedenken Sie, dass wir Engländer, dass wir Christen sind. Ziehen Sie doch Ihren eigenen Verstand zu Rate, Ihre Einsicht in das Wahrscheinliche, Ihre eigenen Beobachtungen dessen, was um Sie herum vorgeht! Legt unsere Erziehung uns solche Gräueltaten nahe? Lassen unsere Gesetze sie stillschweigend zu? Können sie unentdeckt in einem Land wie diesem begangen werden, wo ein solch reger gesellschaftlicher und schriftlicher Verkehr herrscht, wo jeder in seiner Nachbarschaft von freiwilligen Spionen umgeben ist und wo Straßen und Zeitungen alles ans Tageslicht bringen? Liebste Miss Morland, zu welchen Gedanken haben Sie sich hinreißen lassen?«
    Sie hatten das Ende der Galerie erreicht, und unter Tränen der Scham lief sie in ihr eigenes Zimmer.

Kapitel 25
    Die romantischen Visionen waren verflogen. Catherine war endgültig aufgewacht. Henrys Vortrag, so kurz er gewesen war, hatte ihr die Augen gründlicher über die Absurdität ihrer jüngsten Hirngespinste geöffnet als ihre verschiedenen Enttäuschungen. Aufs tiefste fühlte sie sich gedemütigt. Aufs bitterlichste musste sie weinen. Nicht nur vor sich selbst schämte sie sich, sondern vor Henry. Sie hatte sich in ihrer ganzen Torheit, die jetzt sogar kriminell erschien, vor ihm bloßgestellt, und er musste sie auf immer verachten. Die Freiheiten, die sich ihre Phantasie mit dem Charakter seines Vaters erlaubt hatte – konnte er sie je vergeben? Die Abwegigkeit ihrer Neugier und ihrer Ängste – konnte er sie je vergessen? Sie hasste sich selbst unaussprechlich. Er hatte, so schien ihr, er hatte ein- oder zweimal vor diesem verhängnisvollen Tag so etwas wie Zuneigung zu ihr gezeigt. Aber jetzt … kurz und gut, sie ging eine halbe Stunde unbarmherzig mit sich ins Gericht, stieg, als es fünf schlug, mit gebrochenem Herzen die Treppe zu ihnen hinunter und konnte auf Eleanors Frage, ob ihr auch wohl sei, kaum eine verständliche Antwort geben. Der gefürchtete Henry trat bald nach ihr ins Zimmer, und der einzige Unterschied in seinem Benehmen ihr gegenüber bestand darin, dass er noch aufmerksamer zu ihr war als sonst. Noch nie hatte Catherine dringender Trost gebraucht, und er sah aus, als sei er sich dessen bewusst.
    Der Abend verging, ohne dass seine wohltuende Höflichkeit nachließ. Langsam hob sich ihre Stimmung bis zu bescheidener Gelassenheit. Sie konnte das Geschehene weder vergessen noch verteidigen, aber sie konnte hoffen, dass es ein Geheimnis bleiben und sie nicht Henrys ganze Achtung kosten werde.
    Da ihre Gedanken hauptsächlich um das kreisten, was sie in grundlosem Schrecken empfunden und getan hatte, war ihr bald völlig klar, dass sie ganz und gar das Opfer ihrer willkürlichen Selbsttäuschungen geworden war und ihre ohnehin zu Panik entschlossene Einbildungskraft, die schon vor Betreten des Klosters darauf gebrannt hatte, in Angst und Zittern versetzt zu werden, auch dem geringfügigsten Umstand Gewicht beigemessen und ihn nur einem einzigen Zweck zuliebe zurechtgebogen hatte. Sie erinnerte sich, mit welchen Erwartungen sie der Begegnung mit Kloster Northanger entgegengesehen hatte. Sie begriff, dass ihre Verblendung schon entstanden, ja, dass das ganze Unheil schon lange vor ihrer Abreise aus Bath angerichtet war, und es schien, als ließe sich das Ganze auf den Einfluss der Lektüre zurückführen, der sie sich dort hingegeben hatte.
    So reizend all die Werke von Mrs. Radcliffe und so reizend sogar die Werke all ihrer Nachahmer waren, nach wirklichkeitsgetreuen Charakteren, jedenfalls denen von Mittelengland, durfte man darin nicht suchen. Von den Alpen und Pyrenäen mit ihren Kiefernwäldern und ihren Lastern mochten sie eine getreuliche Vorstellung geben, und Italien, die Schweiz und Südfrankreich waren ja vielleicht so reich an Gräueltaten, wie darin beschrieben wurde. Catherine wagte mit ihren Zweifeln nicht über die Grenzen des eigenen Landes hinauszugehen, und selbst dort hätte sie unter Druck die äußersten nördlichen und westlichen Regionen preisgegeben. Aber im Herzen Englands konnte doch wohl selbst eine ungeliebte Frau Zuflucht in den Gesetzen des Landes und in den Sitten ihres Zeitalters finden. Mord wurde nicht geduldet, Diener waren keine Sklaven, und weder Gift noch Schlaftrunk waren wie Rhabarbersaft in jeder Apotheke erhältlich. In den Alpen und Pyrenäen gab es ja vielleicht keine Durchschnittsmenschen. Dort hatte womöglich, wer nicht makellos wie ein Engel war, die Züge eines Teufels. Aber in England war

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