Kloster Northanger
das anders; bei den Engländern, in ihren Sitten und Seelen waren ihrer Meinung nach Gut und Böse überall gleichmäßiger verteilt. Aufgrund dieser Überzeugung wäre sie nicht überrascht gewesen, wenn selbst Eleanor und Henry Tilney daraufhin Zeichen leichter Unvollkommenheit gezeigt hätten, und aufgrund dieser Überzeugung brauchte sie nicht einmal zu fürchten, ein paar dunkle Punkte im Charakter ihres Vaters zu entdecken, der zwar von den gröbsten Verdächtigungen, die ihr ein Leben lang die Schamröte ins Gesicht treiben würden, freigesprochen war, ihr bei ernsthafter Überlegung aber doch nicht wirklich liebenswürdig erschien.
Nachdem sie alle diese Punkte geklärt und den Entschluss gefasst hatte, bei ihren Urteilen und Handlungen in Zukunft immer ihren gesunden Menschenverstand zu Rate zu ziehen, konnte sie sich mit gutem Gewissen selbst verzeihen und das Leben mehr denn je genießen. Und schon nach einem Tag hatte ihr die heilende Hand der Zeit unmerklich über das Schlimmste hinweggeholfen. Dass Henry die ungewöhnliche Großzügigkeit und Diskretion besaß, auch nicht ein einziges Mal auf die Vorkommnisse anzuspielen, war dabei von wesentlicher Bedeutung. Eher als sie in ihrer anfänglichen Verzweiflung für möglich gehalten hätte, hatte sie ihr seelisches Gleichgewicht wiedergefunden und war wie vorher imstande, ihm mit großem Gewinn zuzuhören. Natürlich gab es immer noch einige Gesprächsthemen, vor denen sie bestimmt immer zittern würden – die Erwähnung einer Truhe oder eines Sekretärs zum Beispiel, und am Anblick von Japanarbeiten jeder Art lag ihr gar nichts. Aber selbst sie musste gestehen, dass die gelegentliche Erinnerung an vergangene Torheiten durchaus nützlich, wenn auch nicht schmerzlos sein würde. Auf die romantischen Schauergeschichten folgten bald die Sorgen des Alltags. Ihr Wunsch, von Isabella zu hören, wurde von Tag zu Tag größer. Sie brannte darauf zu erfahren, was in Bath vor sich ging und was in den Gesellschaftsräumen los war, und besonders lag ihr daran zu erfahren, dass Isabella das feine Häkelgarn bekommen hatte, auf das sie so versessen gewesen war, und sich weiterhin mit James vertrug. Ihre einzige Informationsquelle war Isabella. James hatte sich gleich geweigert, ihr vor seiner Rückkehr nach Oxford zu schreiben, und auch Mrs. Allen hatte ihr keine Hoffnung auf einen Brief gemacht, ehe sie nach Fullerton zurückkehrte. Aber Isabella hatte es immer wieder versprochen, und wenn sie einmal etwas versprach, dann konnte man sich hundertprozentig auf sie verlassen! Das machte sie so stutzig! Neun Tage war Catherine Morgen für Morgen über das Ausbleiben von Post enttäuscht, und mit jedem Tag war die Enttäuschung größer geworden, aber als sie am zehnten Tag das Frühstückszimmer betrat, fiel ihr Blick als Erstes auf einen Brief, den Henry ihr bereitwillig entgegenhielt. Sie dankte ihm so herzlich, als hätte er ihn selbst geschrieben. »Er ist allerdings nur von James«, sagte sie, als sie auf den Absender sah. Sie öffnete ihn, er kam aus Oxford und hatte folgenden Inhalt:
»Liebe Catherine,
obwohl ich weiß Gott wenig Neigung zu schreiben verspüre, halte ich es für meine Pflicht, Dir mitzuteilen, dass zwischen Miss Thorpe und mir alles aus ist. Ich will nicht ins Einzelne gehen, das würde Dir nur noch mehr weh tun. Du wirst aus anderer Quelle früh genug erfahren, wo die Schuld liegt, und wie ich hoffe, Deinen Bruder von allem außer der Torheit freisprechen, sich leichtfertig eingebildet zu haben, dass seine Liebe erwidert wird. Gott sei Dank! Mir wurden rechtzeitig die Augen geöffnet! Aber es ist ein schwerer Schlag! Nachdem mein Vater so liebevoll seine Zustimmung gegeben hatte … aber genug davon. Sie hat mich für immer unglücklich gemacht! Lass bald von Dir hören, liebe Catherine, Du bist meine einzige Freundin, auf Deine Liebe vertraue ich. Hoffentlich ist Dein Besuch in Northanger vorüber, bevor Hauptmann Tilney die Verlobung bekanntgibt, sonst bist Du in einer peinlichen Lage. Der arme Thorpe ist in London; mir graut vor einer Begegnung. Der treuen Seele wird es nahegehen. Ich habe an ihn und an meinen Vater geschrieben. Ihre Doppelzüngigkeit schmerzt mich am meisten; wenn ich ihr Vorhaltungen machte, behauptete sie noch bis zum letzten Augenblick, so an mir zu hängen wie eh und je, und machte sich über meine Befürchtungen lustig. Ich schäme mich, wenn ich bedenke, wie lange ich es hingenommen habe. Aber wenn ein Mann je Grund
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