Klostergeist
hatte die Stelle aus dem 15. Vers mit Bedacht gewählt, schien sie ihm doch überaus tröstlich angesichts der Ereignisse der vergangenen Tage: »Es wird gesät verweslich und wird auferstehen verweslich. Es wird gesät in Niedrigkeit und wird auferstehen in Herrlichkeit. Es wird gesät in Armseligkeit und wird auferstehen in Kraft. Es wird gesät ein natürlicher Leib und wird auferstehen ein geistlicher Leib.«
Pius hörte kaum zu. Als Sunil geendet hatte und ein Lächeln über das gebräunte Gesicht des Philippinen huschte, griff er beherzt zur Gabel. Das Rührei war perfekt. Dankbar nickte er Johannes über den Tisch hinweg zu. Der konnte ja nicht wissen, dass die Mutter damals dann und wann heimlich ein paar Eier abgezwackt hatte, um die hungrigen Jungen mit einer Extraportion Essen zu versorgen, wenn der Vater bei der Arbeit war. Diese Momente in der Küche waren für den kleinen Pius wie Weihnachten – und leider fast genauso selten.
Gestärkt trat er gegen zehn Uhr vor die Pforte. Pater Josef saß über Listen gebeugt an seinem Schreibtisch. Pius schickte einen ängstlichen Blick zum Telefon, doch Josef hatte offensichtlich nicht bemerkt, dass nächtliche Besucher an seinem Schreibtisch gewesen waren. Pius blieb einen Moment lang auf den Stufen stehen und sog die kühle Morgenluft tief in seine Lungen ein. Unten im Tal lagen noch Nebelschwaden, die Spaichingen wie eine Daunendecke umhüllten. Doch hier oben auf dem Berg war der stahlblaue Himmel zu sehen – es würde ein schöner Tag werden. Die Trauergäste konnten die Schirme zu Hause lassen.
Pius lenkte den Polo die Serpentinen hinunter ins Tal. Auf der Weide des Färberbauern standen träge die Kühe und bliesen weiße Dampfwolken aus den Mäulern. Einen Moment lang war Pius versucht, das Auto am Straßenrand zu parken und sich ans Gatter zu stellen. Der Prior liebte es, wenn die Kühe schwerfällig auf ihn zu trotteten, sich zwischen den Hörnern kraulen ließen und ihn mit der rauen Zunge an der Hand leckten. Doch ein Blick auf die Uhr im Cockpit zeigte ihm, dass er besser auf direktem Weg zur Aussegnungshalle fahren sollte. Die Stadtpfarrkirche, so hatte er beschieden, würde die Masse der Trauernden nicht aufnehmen können, von den Journalisten ganz zu schweigen.
Pius parkte hinter der verglasten Halle und war froh, dass er nicht wie Hunderte andere einen Parkplatz suchen musste. Die Hauptstraße war quasi verstopft und im Vorbeifahren hatte er gesehen, dass selbst der Parkplatz beim Primtalcenter komplett belegt war. Ganz bestimmt nicht mit Leuten, die zum Aldi wollten. Vor dem Gebäude, auf dem Friedhofsplatz, hatte die Stadtverwaltung eine große Leinwand aufstellen lassen. Der Gottesdienst würde für all jene, die keinen Platz fanden, draußen übertragen werden. Am Rande hatte er mitbekommen, dass die Stadtverwaltung mit dem SWR verhandelt hatte, weil der Sender ohnehin mit einem Kamerateam vertreten sein würde. Die Beerdigung wurde allerdings, auf Wunsch der Witwe, nur in Ausschnitten gezeigt. Abendschau und Regional-TV würden in den Abendsendungen kurz berichten..
Pius nahm seine tiefschwarze Kutte aus dem Kofferraum. Die dicken Skisocken zwickten an seinen Waden und die lange Unterhose kniff ihm in den Po. »Wieso sterben die Leute eigentlich immer, wenn’s so kalt ist?«, murmelte der Pater vor sich hin und ging zum Seiteneingang. Die Tür stand offen. Pius huschte ins Gebäude. Entlang des Flures waren vier Türen, drei davon geschlossen. Vor dem geöffneten Raum standen rechts und links der doppelflügeligen Tür Blumenbuketts. Pius warf einen kurzen Blick in den Aufbahrungsraum – Marlies Engel saß mit gebeugtem Rücken vor dem geschlossenen Sarg ihres Mannes. Hinter ihr stand Evelyne Engel und hatte eine Hand auf die Schulter der Witwe gelegt. Pius schlich vorbei und schlüpfte in jenes Zimmer, das als Sakristei diente.
Frieder Schmuck hantierte an der Soundanlage.
»Morgen, Pater Pius«, murmelte der Hausmeister in seinen nicht vorhandenen Bart.
»Guten Morgen, Frieder.« Pius warf die Kutte über einen Stuhl, schlüpfte aus seiner dicken Jacke, und streifte sich dann den schwarzen Habit über den dicken Rollkragenpullover.
»Hast du meine Rede mit den Anmerkungen zur Musik bekommen?«, fragte Pius, nur um irgendetwas zu sagen. Natürlich hatte Frieder die Mail bekommen – der Ausdruck der Trauerrede lag vor dem Hausmeister auf dem Mischpult, daneben ein Stapel CDs.
»Hmmm«, brummte Schmuck. »So viel Musik haben
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