Klostergeist
»Grrrrr, Frau Werwolf …«
Nur mit Mühe konnte Verena die aufsteigende Wut im Zaum halten. Die Bilder verschwammen vor ihren Augen. Wut? Warum war sie wütend? Die Kommissarin verstand sich selbst nicht recht. Vor ihrem inneren Auge tauchte das überschminkte Gesicht von der Sonnlein auf, die lächelnd neben Thorben die Hauptstraße entlang tippelte. Das ist albern! schalt Verena sich selbst und linste zu ihrem Kollegen hinüber. Der hatte sich nun seinerseits in einen ganzen Stapel Zeitungen vertieft – die ›Stuttgarter Nachrichten‹ und die ›Stuttgarter Zeitung‹ berichteten ausführlich über den plötzlichen Tod des Cousins des Vorstandsvorsitzenden der Württemberger Kasse. ›Südkurier‹, ›Schwarzwälder Bote‹, ›Badisches Tagblatt‹. Überall war der tödliche Sturz des Spaichinger Bürgermeisters das Thema des Tages.
Thorben Fischer führte seinen rechten Zeigefinger zum Mund, benetzte ihn mit etwas Spucke und blätterte zur nächsten Seite.
Verena spürte ein Kribbeln im Bauch … »Meine Herren, dieser Lackaffe«, schalt sie sich halblaut selbst und spürte, wie ihre Ohren zu glühen begannen. Mit zitternden Händen langte sie nach dem Kaffeebecher.
»Das ist doch mal ein schönes Foto!«, lobte Fischer plötzlich und hielt seiner Kollegin den ›Zollern-Alb-Kurier‹ unter die Nase. »Sehr schön getroffen!«
Verena sah sich selbst auf dem Foto, geradewegs in die Kamera blickend, ernste Augen, aber ein sanftes Lächeln um den Mund. Ihre Ohren mussten feuerrot sein, dachte sie und war mehr als dankbar, als just in diesem Moment das Telefon klingelte. Brüsk wandte sie sich um und starrte, den Hörer in der Hand, an die Wand, die mit Karteikarten gepflastert war. Dass Thorben Fischer das Foto ausschnitt und in seiner Schublade verschwinden ließ, bekam sie nicht mit.
Radio Donauwelle, euer Steven am Mikro! Leute, bleibt dran, in der nächsten Stunde werden wir mit Jens-Uwe Engel sprechen. Den kennen die Älteren unter euch noch als Chef der Tuttlinger Sparkasse. Jetzt ist er in Stuttgart – und vielleicht kann er etwas Licht in den mysteriösen Tod seines Cousins bringen.
Unser Werbepartner Optik Gebrüder Karl startet heute eine Sonnenbrillen-Offensive. Okay, das Wetter ist grau, aber der nächste Sommer kommt bestimmt. Brillen von namhaften Designern gibt’s bei Optik-Karl jetzt zu Outlet-Preisen. Sehtests, Frühstück und Etuis inklusive.
Unser Hörer Heinz aus Rietheim erinnert an das Schlachtfest im Vereinsheim der Kleintierzüchter am Wochenende. Gäste sind herzlich willkommen. Wie immer heißt es ›All you can eat‹.
Aus der Verkehrsredaktion wird ein Blitzer zwischen Aldingen und Schura gemeldet. Bitte runter vom Gas – und Lautsprecher aufdrehen. Euer Morgenmann Tom spielt für euch ›Sunglasses at Night‹ von Corey Hart!
Bruder Ortwin hatte fragend die Augenbrauen gehoben, als an diesem Morgen im Refektorium Rühreier mit Speck, Räucherlachs und frisch gepresster Orangensaft anstelle der üblichen Marmeladenbrote auf den Tisch kamen. Doch ein Blick von Bruder Johannes hatte ihn schweigen lassen – mit dem opulenten Frühstück wollte der Koch der Bruderschaft den Prior zumindest körperlich für den heutigen Tag stärken. Johannes hatte gehört, dass Pius die halbe Nacht in seiner Zelle auf und ab gewandert war. Fast hatte er gemeint, das Kratzen des Bleistiftes, mit welchem der Freund seine Notizen für die Totenmesse machte, durch die dicken Wände zu hören. Zwar hatte die Gemeinschaft fest installierte Computer in den Arbeitszimmern und insgesamt drei Laptops, doch Pius schrieb Predigten lieber von Hand. »Da muss ich vor dem Schreiben schon denken«, begründete er das. Gleichwohl schätzten die Patres die virtuelle Verbindung in die Welt. Internet sei Dank konnten sie in Sekundenschnelle Kontakt mit den Bruderhäusern aufnehmen, die über den ganzen Globus verstreut waren. Skype und ICQ waren im Kloster längst keine Fremdwörter mehr.
Pius saß an diesem Morgen mit tiefen Augenringen vor seinem üppig gefüllten Teller. Der Duft der knusprigen Speckscheiben stieg verführerisch in seine Nase und vertrieb den letzten Rest Müdigkeit. Erst gegen vier Uhr hatte er in einen unruhigen Schlaf gefunden. Der starke Kaffee schaffte es aber, die Fratzen seines Traumes zu vertreiben.
Bruder Sunil trat an das kleine Pult unter dem Kruzifix und schlug die Bibel auf. Mit starkem Akzent, aber fester Stimme, las er aus den Korintherbriefen vor. Sunil
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