Klostergeist
Augenblicke später rollte ein Gabelstapler zum Lastwagen. Pius sah, dass der Stapler ein Fass auflud. Ein gelbes Fass. Das grelle Flutlicht beleuchtete die Baustelle – und Pius riss verwundert die Augen hinter dem Fernglas auf: Ein Fass nach dem anderen wurde abgeladen und in die Grube gekarrt.
Eine knappe Viertelstunde später wiederholte sich das Schauspiel mit dem zweiten Lastwagen. Der Fahrer des ersten stand rauchend neben der Grube. Pius fröstelte und seine Finger, längst klamm vor Kälte, schienen am Fernglas festgefroren.
Dann rollte der dritte Lkw an die Schwimmbadgrube. Die Ladefläche wurde schräg gestellt. Sand oder Kies oder was auch immer rutschten in die Grube. Eine Staubwolke stieg auf und verwehrte dem Pater die Sicht. Als der Staub sich gelegt hatte, sah Pius, dass zwei der drei Laster verschwunden waren. In der Grube meinte er Gestalten zu erkennen, die mit Schaufeln den Dreck über die Fässer warfen. Pius nieste, verstaute das Fernglas in der Mauernische und verließ den Turm. Jetzt hatte er nur noch zwei Wünsche: ein stilles Abendgebet und seine warme Decke.
Tag 3
Radio Donauwelle, euer Sender für Tuttlingen und den ganzen Landkreis. Mein Name ist Steven und ich bin heute wieder den ganzen Vormittag für euch am Mikro. Kollege Tom und eure Mittagsfrau Katja berichten nachher live aus Spaichingen von der Beerdigung des Bürgermeisters. Außerdem schalten wir zu Thorben Fischer. Der Kommissar wird euch auf den neuesten Stand der Ermittlungen bringen.
Ein Hinweis aus unserer Wetterredaktion: Nehmt die Schirme mit, wenn ihr zur Arbeit geht – das Wetter da draußen verheißt nichts Gutes.
Vor dem Verkehrshinweis lässt euch unser Werbepartner Optik Gebrüder Karl wissen, dass heute und morgen auf Gleitsichtgläser zehn Prozent Rabatt geboten werden. Die Rabattaktion für die Fassungen, die kostenlosen Brillenetuis, Brezeln und den Sehtest gibt es natürlich weiterhin.
Jetzt zum Verkehr: Nichts los. Kein Stau, kein Blitzer. Deshalb umso schneller ein Wachmacherhit für euch: Mike and the Mechanics servieren den Donauwelle-Hörern jetzt ›Another Cup of Coffee‹.
Aus der Tasse stieg Dampf auf. Leise, als würde sie schweben, hatte Frau Haller den frisch gebrühten Kaffee vor Verena Hälble auf den Schreibtisch gestellt. Die Kommissarin biss genussvoll in eine Brezel und schlug den ›Bergboten‹ auf.
»Das gibt’s doch nicht«, nuschelte sie beim ersten Blick auf die Spaichinger Lokalseite und spie hustend ein paar Brezelkrümel auf die Zeitung. Quer über alle sechs Spalten prangte in 72-Punkt-Größe die Überschrift: ›Mord in Spaichingen: Schultes tot!‹ Darunter sah Verena ein Foto von Bürgermeister Engel beim Spatenstich im Freibad, untertitelt mit: ›Das letzte Foto vom Verstorbenen.‹ In bester Boulevardmanier nahm der rasende Mike die Geschehnisse der letzten Tage unter die Lupe – die Familie des Bürgermeisters, die Querelen im Gemeinderat. Das Haus der Familie Engel mit den vor dem Eingang parkenden Streifenwagen war abgelichtet. Daneben ein etwas unscharfes Foto von Verena selbst bei der gestrigen Pressekonferenz. Die Kommissarin beugte sich näher über die Zeitung. Natürlich – Mike Ritter hatte genau in dem Moment abgedrückt, als sie zwar den Mund offen, die Augen aber halb geschlossen hatte.
»Nicht besonders gut getroffen, was, Frau Kollegin?«, kicherte Thorben Fischer und klopfte ihr zur Begrüßung auf den Rücken. Verena erschrak und hustete weitere Brezelkrümel aus.
»Nicht besonders pünktlich heute Morgen, was, Herr Kollege?«, konterte sie und bemerkte zu ihrer eigenen Überraschung ein angenehmes Kribbeln an der Stelle, die Fischer eben berührt hatte.
Der Kollege grinste und ließ sich auf seinen Schreibtischstuhl plumpsen.
»Wo gibt’s denn hier frisch gebrühten Kaffee?«, fragte er und hielt angewidert seinen Automatenbecher von sich.
»Den gibt’s für Kollegen, die pünktlich erscheinen!«, zischte Verena und schüttelte sich unmerklich. Aber das Kribbeln blieb.
Fischer schniefte gekünstelt. »Schlechte Laune?«
»Nein, viel Arbeit.« Verena beugte sich demonstrativ über die Zeitung.
Thorbens Blick sog sich an ihren Locken fest. Er fragte sich, wie Verenas Haar wohl duftete. Mit einem Mal hatte er unbändige Lust, seine Nase in den Wuschelkopf zu stecken. Er knurrte leise. Eine winzige Meldung in der Zeitung kündigte an, dass heute mit den Betonarbeiten am Freibad begonnen würde. Trockenes Wetter vorausgesetzt.
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