Klotz, Der Tod Und Das Absurde
Betrachtete die
herumwuselnden Menschen, die mal mehr, mal weniger Gepäck durch die
Bahnhofshalle schleppten.
Es dauerte nicht lange, und die beiden Rotkappen wurden von zwei
Grün-Weißen ersetzt. Den Polizisten war Charlie Schmidt ein Begriff.
»Du, aufgmergd, Günder, die Frau Kommissarin maand woardscheins den
Dscharlie, der immer undn bei dä U-Bohn rumhängt. Dou vuur dä Schboorkassn.«
Während sie die Rolltreppe Richtung U-Bahn hinunterfuhren, erklärten
die beiden Polizisten, dass Charlie Schmidt alles andere als ein unbeschriebenes
Blatt sei: Charlie nahm schlichtweg alles an Rauschmitteln, was er kriegen
konnte. Die ganze Bandbreite von Bier und Wodka bis hin zu Heroin und LSD wurde von ihm bedenkenlos
konsumiert. Es konnte also gut sein, dass Charlie irgendeinen Film schob, wenn
sie ihn antreffen würden, und das konnte gefährlich werden.
Die Beamten verließen die Rolltreppe und sahen sich um. Haevernick
nippte an ihrem Pappbecher. Plötzlich stieß einer der Polizisten aus: »Dou
schau her, dou isser doch!«
Der Vorwand, eine simple Ausweiskontrolle durchzuführen, sollte
garantieren, dass Charlie ruhig blieb. Falls er irgendetwas an illegalen
Rauschmitteln dabeigehabt hätte, dann wäre es jetzt schon längst weg, das
wussten sie. Dafür waren sie viel zu langsam auf ihn zugekommen. Sie hatten ihm
bewusst Zeit gelassen. Die Oberkommissarin sollte sich erst mal im Hintergrund
halten. Nach ein paar Minuten gab einer der Bahnpolizisten das verabredete
Zeichen. Haevernick ging los.
Als sie sah, wie der Mann mit der hellbraunen, heruntergekommenen
Kunstlederjacke sein fettiges schwarzes Haar hinter seine Ohren schmierte,
mischte sich in ihr Mitleid ein Gefühl des Angewidertseins.
»Horch, Dscharlie, des iss ä Kollechin vo der Kribbo. Däi mechd dier
edzerdla a boar Froung schdelln.«
Sie fixierte zwei riesige, von Angst getränkte Pupillen und war im
ersten Moment ganz perplex. Den zweiten Moment nutzte Charlie Schmidt, um
abzuhauen.
Die Kollegen von der Bahnpolizei schalteten sofort und nahmen die
Verfolgung auf. Haevernick hinterher. Etwa fünfzehn Meter vor sich sah sie das
flatternde, strähnige Haar Charlie Schmidts in einem U-Bahn-Schacht
verschwinden. Sein schwarzer Rucksack baumelte hin und her. Das Geräusch
rhythmisch aneinanderschlagender Flaschen drang an ihr Ohr.
Im U-Bahn-Schacht machten ein paar Leute ihrem Ärger darüber Luft,
dass man sie einfach grob zur Seite schubste. Als sie kurz darauf von den
beiden Grün-Weißen und der Oberkommissarin gestreift wurden, ließ sie ihr
Erstaunen wieder ruhiger werden. Am Gleis stand eine Bahn abfahrbereit.
Kurz bevor Haevernick bei der Bahn ankam, hatte sie noch die
Durchsage gehört. Zurücktreten bitte! Jetzt sah sie, wie Charlie Schmidt zwischen die beiden Triebwagen des
anfahrenden Zuges fiel. Haevernick kniete sich auf den Boden und streckte
Charlie ihre Hand hin.
»Los, gib mir deine Hand!«
Ein lauter, angsterfüllter Schrei. Das war alles. Die rettende Hand
hatte er nicht ergreifen wollen. Charlie Schmidt steckte fest. Man hörte das
rhythmische Schlagen der Glasflaschen aus seinem Rucksack. Der Körper wurde
immer schneller in den Gleiskanal gezogen, bis der Zug endlich im Tunnel
verschwunden war.
Haevernick sank in sich zusammen. Der Schrei, den sie ausstieß, war
lautlos.
* * *
Leonie Zangenberg blickte aus dem Fenster ihres Büros im zweiten
Stock des Polizeipräsidiums und sah, dass von der Sonne nicht mehr viel übrig
war. Vor der Kirche Sankt Jakob saßen zwei Mädchen, die sich einen Lebkuchen
teilten. In weniger als drei Minuten würde die Sonne ganz verschwunden sein,
und die Mädchen würden aufstehen. Sie drehte sich um und ging über den Korridor
des Dezernats in den Aufenthaltsraum. Sie überlegte, wie viel Kaffee sie noch
machen sollte. Außerdem fragte sie sich, warum sie überhaupt noch hier war. Sie
hatte alle Telefonate bis auf eines erfolgreich getätigt, sogar die
Staatsanwältin war informiert, doch Polizeipräsident Huber wollte, dass sie
noch blieb.
Während sie sich zum wiederholten Male über den sonntäglichen
Bereitschaftsdienst ärgerte, entschied sie sich dafür, noch eine halbe Kanne Kaffee
zu machen. Nachdem sie den Apparat in Gang gesetzt hatte, drückte sie ihre
Kippe aus und steckte sich gleich eine neue »Reyno White 100« an. Dann setzte
sie sich an den Tisch und zog die Infobroschüre aus ihrer schwarzen
Überschlagtasche. Sie sah sich noch einmal die beiden
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