Klotz, Der Tod Und Das Absurde
Unterfangen. Genauso sinnlos wie die stummen Gespräche, die Monsieur
Cavaignac mit seinem letzten Gesprächspartner hier auf Erden führte.
So schien es zumindest. Was allerdings weder der Marmorengel noch
Monsieur Cavaignac wussten, war, dass in nur wenigen Minuten die Last von den
Schultern des Engels genommen werden sollte. Die des alten Mannes hingegen
würde noch ein paar Jahre bestehen bleiben.
Und auch Sven van der Heyd wusste von dem kurz bevorstehenden
Glücksmoment des Engels noch nichts, obwohl er maßgeblichen Anteil haben
sollte.
Im Moment fuhr er in einem blitzblanken Jaguar hinter dem Sacré-Cœur
entlang und freute sich diebisch darüber, dass er seine Geschäftspartner mit Hilfe
geschönter Statistiken von einer Fusion ihrer Unternehmensgruppe mit seiner
eigenen hatte überzeugen können. Bald würden wieder schwarze Zahlen geschrieben
werden, das war klar.
Die Ampel an der Kreuzung Rue du Mont-Cenis – Rue Custine sprang auf
Rot, und er brachte den Wagen an der Haltelinie zum Stehen. Blickte verzückt
auf den Beifahrersitz, wo der schweinslederne Aktenkoffer lag, in dem die
unterschriebenen Verträge ruhten. Strich mit der Hand beinahe zärtlich über das
schwarze Leder. Fuhr mit quietschenden Reifen an, als die Ampel wieder Grün
zeigte.
Van der Heyd bewegte das Steuer eine Idee nach links und fuhr in die
Rue Caulaincourt. Er brauchte ihrem Straßenverlauf nur zu folgen, um dahin zu
kommen, wo er seinen Sieg gebührend zu feiern gedachte. In der Nähe des
Boulevard de Clichy kannte er ein kleines, exklusives Bordell, in dem er als
Stammgast bereits hohes Ansehen genoss.
Während er den CD -Player
einschaltete und »I Can’t Get No Satisfaction« von den Stones zu grölen begann,
überlegte er, ob er sich für die blonde Jeanette oder die brünette Laetitia
entscheiden sollte. An so einem Tag wie heute würde die Wahl besonders
schwerfallen. Ach, egal. Er würde sich einfach mit beiden gleichzeitig
vergnügen.
Als van der Heyd an der Avenue Junot vorbeigefahren war und jetzt in
den großen Bogen nach links steuerte, den die Rue Caulaincourt beschrieb, hatte
Monsieur Cavaignac noch nicht einmal die Hälfte seiner filterlosen Gitane
geraucht. Er war gerade dabei, dem pyramidenstützenden Engel das übliche Lamento
vorzutragen. Dass er ihn doch endlich mit sich nehmen sollte, dieses Erdenleben
habe ja durchaus seine Glanzpunkte gehabt, aber von Jahr zu Jahr würde es
unerträglicher.
Monsieur Cavaignac, der insgeheim schon ahnte, dass ihm sein letzter
Wunsch heute wieder nicht erfüllt werden würde, nahm resigniert einen tiefen
Zug und wandte seine Augen von dem Grabmal ab. Ließ seinen Blick schweifen und
heftete ihn schließlich an einen stählernen Pfeiler, der doch noch etwas älter
war als er selbst und schon seit 1888 eine mächtige Straßenbrücke abstützte,
die über den Friedhof gespannt war, um die Rue Caulaincourt mit der Place de
Clichy zu verbinden.
Van der Heyd sah durch die Frontscheibe, sah die abfallende Straße
vor sich, sah das grün-weiß-rote Logo des Ibis-Hotels auf der anderen Seite und
trat aufs Gas. Nachdem er zweimal das trockene Geräusch gehört hatte, das
Reifen machten, wenn sie den Dehnungsspalt einer Brückenkonstruktion
passierten, brach der Wagen plötzlich scharf nach rechts aus, ohne dass er das Steuer
betätigt hatte. Mit aller Kraft trat er auf die Bremse und riss das Lenkrad
nach links. Er musste allerdings feststellen, dass beide Aktionen keinerlei
Wirkung hervorgerufen hatten.
Dann sah er, wie der Bug seines Wagens über das kleine Eisengitter
rauschte, das den Gehweg von der Straße trennte, um schließlich mit voller
Wucht gegen die einen Meter fünfzig hohe Stahlbegrenzung der Brücke zu knallen.
Für einen Moment sah er nichts mehr. Das heißt, er sah in den grauen
Himmel, in den der massive Aufprall das Auto geschleudert hatte. Für Bruchteile
von Sekunden hing der Wagen in der Luft. Das Heck wurde nach vorn geschleudert,
und van der Heyd, der jetzt auf dem Kopf stand, blickte in die erschrockenen
Gesichter von ein paar Menschen, die auf der Brücke standen. Er sah eine junge
Mutter mit einem Kinderwagen, eine dunkelhäutige Frau, die ein weißes Kopftuch
umgebunden hatte, und einen Müllmann. Plötzlich klingelte sein Handy, und ihm
wurde klar, dass er in diesem Leben nicht mehr dazu kommen würde, den Anruf
entgegenzunehmen.
Das Dach des Jaguar wurde von der Spitze einer Marmorpyramide
durchbohrt. Die Spitze erreichte den Brustkorb seines
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