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Klotz, Der Tod Und Das Absurde

Titel: Klotz, Der Tod Und Das Absurde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Klier
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war klar. Aber diese symbolische Darstellung auf den
Briefen, auf dem Grab seines Vaters unterstrichen, dass es nicht um einen
gewöhnlichen Tod ging, sondern um einen Tod von Bedeutung, von großer
Bedeutung.
    Weiter. Die religiöse Dimension. Pyramiden konnten Stufen für die
Götter darstellen, auf denen diese vom Himmel auf die Erde hinabstiegen. Vor
allem der ägyptische Sonnengott Re spielte hier eine wichtige Rolle. Re – die
Sonne. Was hatte das zu bedeuten?
    Hatten sie es mit einem religiösen Fanatiker zu tun, mit einem
Psychopathen, der sich selbst für einen Gott hielt oder im Auftrag Gottes oder
der Götter zu handeln glaubte?
    Die Pyramide als esoterische Antenne, durch die man mit dem
Universum Kontakt aufnehmen konnte …
    Die Pyramide als räumliches Abbild der Struktur einer Gesellschaft.
Unten die Vielen, die Armen, das Volk. Oben die Wenigen, die Reichen, die Macht

    Klotz war genervt. Er legte die Blätter beiseite und sah auf den
Christbaum, auf die elektrischen Kerzen, den goldenen Engel auf der Spitze und
strich sich über den Bauch, der in seiner Form den rotglänzenden Kugeln vor
seiner Nase nicht unähnlich war.
    Dann fiel sein Blick auf das fränkische Kochbuch, das unter dem Baum
lag. Als er sich vornüberbeugte, begann der hundertjährige Stuhl wieder zu
ächzen. Er streckte seine Hand nach dem Buch aus, und schließlich knackte es
kurz und geräuschvoll. Er kam ins Straucheln, die runde Sitzfläche neigte sich
mehr als gewöhnlich, und er fiel Richtung Baum. Gerade noch hatte er ihn
festhalten können.
    Werner Klotz saß in der Hocke auf dem Boden und hielt mit beiden
Händen die Zweige des Baumes fest. Neben ihm kullerte die abgebrochene
Sitzfläche vorbei. Plötzlich klingelte es an der Tür.
    »Werner! Geh doch bitte mal! Dein Bruder ist da!«
    »Sofort, Mama!«
    Langsam richtete er sich wieder auf. Gut. Der Baum stand fest. Als
er sich drehte, machte sein rechter Fuß ein knirschendes Geräusch. Er hob ihn
an, und von der Sohle seines Schuhs fielen kleine silberrote Splitter auf die Reste
einer völlig vernichteten Christbaumkugel.
    * * *
    Monsieur Cavaignac war seit drei Monaten und dreizehn Tagen
vierundneunzig Jahre alt und besuchte nun schon seit etwa zehn Jahren
regelmäßig den Friedhof Montmartre im achtzehnten Stadtbezirk von Paris. Und
obwohl er die Nähe der Toten suchte, gelang es ihm selbst nicht, dem Tod näher
zu kommen, und davon war Monsieur Cavaignac keineswegs begeistert, denn seit
einiger Zeit war er des Lebens doch ziemlich überdrüssig.
    Obwohl er immer geraucht und auch dem Alkohol nicht abgeneigt
gewesen war, wollte er einfach nicht sterben. Er hatte seine drei Frauen und
seine fünf Kinder überlebt, hatte seine sieben älteren Geschwister und deren
Sprösslinge dahinscheiden sehen und war nun ganz allein. Allein mit sich und einer
filterlosen Zigarette, die er jetzt in den vertrockneten Mund schob und mittels
eines Streichholzes entzündete.
    Er lehnte sich zurück und legte die linke Hand neben sich auf das
grün gestrichene Holz der Bank, auf der er gerade Platz genommen hatte. Dann
sah er am Monument Central vorbei auf die runde Begrenzungskante der
achtzehnten Abteilung. Sah einen Friedhofswärter aus der Avenue Dubuisson
schleichen, grüßte zurück, nachdem dieser gegrüßt hatte, und betrachtete den
Engel, mit dem er während der letzten Dekade am häufigsten und längsten seine
todessüchtigen Gespräche geführt hatte.
    Monsieur Cavaignac starrte auf die weißen Füße der lebensgroßen
Marmorstatue, die mit ihren Zehenspitzen eine abgeschrägte Grabplatte berührte.
An dieser Stelle erweckte die Figur den Eindruck, als würde sie von der Fläche
abheben wollen. Verfolgte man aber die Beine des Engels und traf schließlich
auf Oberkörper und Kopf, so konnte man feststellen, dass der Engel eine schwere
Last auf seinen Schultern trug. Sein klares, symmetrisch gescheiteltes Gesicht
blickte mit dem unverkennbaren Ausdruck tiefer Melancholie zwischen zwei
ionischen Kapitellen hervor, auf denen die beiden vorderen Ecken einer steil
ansteigenden Pyramide ruhten. An der Unterseite der Pyramide klebten die Flügel
des Engels fest, und es sah so aus, als würden sie durch die Wuchtigkeit und
Schwere, die über ihnen lag, am Wegfliegen gehindert. Hinzu kam, dass eine Hand
des Engels über die Außenkante der Pyramide nach vorn ragte, und es schien, als
wolle sie die Last mit dem Handrücken nach oben von sich drücken. Ein völlig
sinnloses

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