Klotz, Der Tod Und Das Absurde
mir.«
* * *
»Alors, on va où, Monsieur? Where do you want to go?«
Klotz warf einen letzten Blick auf die unscheinbare Fassade des
Hotels, an dessen Sockel gerade ein zerzauster schwarzer Hund pinkelte.
»Monsieur?«
»Pardon?«
»Où est-ce que vous voulez aller? La destination?«
»Gare de l’Est, s’il vous plaît.«
Der Taxifahrer fuhr los. Klotz sah nach draußen, sah die
Obdachlosen, kaputte Junkies, schlendernde Passanten, einen Schwarm Tauben, der
unter einem bewölkten Himmel flog. Seltsam, dachte Klotz. Hier an der Place
Pigalle das Viertel der Ausschweifung, der Ungezügeltheit, der Sucht, und dort
vorn diese Brücke, die über das Reich der Toten gespannt war. Eine Ansammlung
aus grauem, vermoostem Stein, der keinerlei Hoffnung oder Trost versprach.
Und was war mit Melanie? Würde er das wiedergutmachen können? Und
vor allem wie? Heute war Silvester, und er hatte keine Ahnung, mit wem oder wie
er die Jahreswende begehen würde. Ein guter Zeitpunkt für einen Neuanfang
vielleicht, mit Melanie und mit seiner Gesundheit, denn er hatte sich ja auch
vorgenommen, mit dem Rauchen aufzuhören.
Es war wie immer. Er hatte wieder nur seine Arbeit im Kopf, diesen
beschissenen Fall, der ihn nicht losließ. Und dabei hatte er die Menschen um
sich herum vergessen. Die Menschen, denen er etwas bedeutete, die ihn
vielleicht liebten. Er fragte sich, warum er es in all den Jahren, die er nun
auf dieser Erde zugebracht hatte, niemals gelernt hatte, die nötige Rücksicht,
den selbstverständlichen Respekt für sie aufzubringen. Wahrscheinlich war er
ein gnadenloser Egoist. Ein fehlgeleiteter Typ, der sich immer nur um sich
selbst und seine Arbeit drehte. Wahrscheinlich war es das. Aber er hatte keine
Ahnung, wie er das hätte ändern können.
Sie hatten die Brücke erreicht. Klotz blickte auf die Gräber, die
sich jenseits der türkisfarbenen Stahlbegrenzung befanden. Sah wieder das
Stück, das bei van der Heyds Unfall herausgebrochen war, die rot-weiße
Absperrung, das Schild, welches den Passanten vorschrieb, an dieser Stelle die
andere Straßenseite zu benutzen. Plötzlich hatte er eine Eingebung.
»Pardon, Monsieur! Could you stop please? Could you turn back?
Retour?«
»Si vous voulez. Pas de problème.«
»I would like to visit the cemetery. Le cimetière, s’il vous
plaît.«
Klotz hatte sich auf eine Bank gesetzt. Er sah auf das Monument
Central, eine Art Säule, die mit einem vasenartigen Gebilde abschloss.
Fokussierte nach einiger Zeit das zerstörte Grabmal dahinter.
Er erinnerte sich wieder an die Fotos, die der Akte van der Heyd
beigelegen hatten und auf denen das unbeschädigte Grabmal zu sehen gewesen war.
Ihm fiel der Name ein, der auf der Pyramide gestanden hatte: Famille
Vernouillet .
Sah weiter, auf die durchbrochene Stelle im Brückengeländer. Zog
eine imaginäre Linie von der Brücke über das Grabmal bis zu der Stelle, wo der
Wagen auf den Boden aufgeschlagen war.
Irgendetwas in seinem Bauch rumorte, und schuld daran war nicht
dieses spärliche Frühstück aus zwei Croissants und einem schwarzen Kaffee. Was
zum Teufel noch mal hatte er übersehen? Eigentlich hätte er jetzt Lust gehabt,
eine zu rauchen. Aber er tat es nicht. Ihm war aufgefallen, dass er immer dann
rauchte, wenn er nicht weiterwusste. Irgendwie muss man das aushalten, dachte
er, dieses spannungsgeladene Gefühl, diese Mischung aus Erwartung und Angst.
Eine neue Kippe würde da auch keine Lösung bringen.
Er ging zwischen den Gräbern hindurch, bis er unter der Brücke
stand. Er sah nach oben, sah die vielen Streben und Querverbindungen aus Stahl,
lauschte auf das Geräusch, das von den Autos kam, die über die Brücke fuhren.
Plötzlich fiel ihm etwas ein, von dem er mit ziemlicher Sicherheit wusste, dass
es vom Dalai Lama stammte: »Bedenke, dass Schweigen manchmal die beste Antwort
ist.«
Er schloss die Augen. Atmete ein, atmete aus. Schweigen.
Als er die Augen wieder öffnete, war sein Kopf leer. Keine Gedanken,
keine Nervosität. Er blickte zu dem Grabmal, das seinen Namen trug. Ging
hinüber und sah ins Innere der Gruft. Jules Klotz – Joseph Parrot. Wieder sah er auf die hebräischen Buchstaben, die er
nicht lesen konnte.
Zwei Namen, ein Grab, ging es ihm durch den Kopf.
Er ging zurück zu dem Grabmal, das durch den Unfall zerstört worden
war. Sah auf den Sockel, der zum Teil von Efeu überwuchert war.
Nach einigem Suchen hatte er die Stelle gefunden und vom Efeu
freigelegt. Elisa Morvan, née
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