Knapp am Herz vorbei
nicht. Es gab keinen Arzt, kein Krankenhaus. Krankenhäuser sind für Rockefellers.
Willie, sieben Jahre alt, sitzt in der Küche und beobachtet seine gramgebeugte Mutter am Waschtisch. Sie steht da – eine kleine Frau, breit in den Hüften, mit dünnem rotem Haar und verschlafenen Augen – und schrubbt ein Stück Stoff, das einmal weiß war und es nie wieder sein wird. Sie verwendet ein Waschpulver, das für Willie nach reifen Birnen und Vanille riecht.
Der Name des Waschmittels – Fels – ist allgegenwärtig, in Zeitungen, auf Reklametafeln, auf Plakaten in der Straßenbahn. Beim Seilhüpfen singen Kinder den Werbespruch der Firma, um den Rhythmus zu halten. Fels-entfernt-das verräte-rische Grau! Was bedeutet, ohne Fels entlarven dich dein grauer Kragen und deine Unterhosen als schmutzig und arm. Judasklamotten – die Vorstellung versetzt den kleinen Willie in Angst und Schrecken. Trotzdem ist Mutters ständiges Scheuern sinnlos. Ein nobles Bemühen, aber Zeitverschwendung, denn kaum trittst du nach draußen: platsch. Die Straßen sind voller Dreck und Scheiße, Teer und Ruß, Staub und Öl.
Und toter Pferde. Sie kippen von der Hitze um, schlagen von der Kälte hin, brechen wegen Krankheit oder Vernachlässigung zusammen. Jede Woche liegt ein anderes im Rinnstein. Gehört das Pferd einem Zigeuner oder Lumpensammler, bleibt es dort liegen. Mit der Zeit schwillt es an wie ein Ballon, und irgendwann explodiert es. Ein Krach wie aus einer Kanone. Dann verströmt es einen Gestank, der einem die Augen tränen lässt und Fliegen und Ratten anzieht. Manchmal schickt die städtische Reinigung von New York einen Trupp vorbei. Aber genauso oft auch nicht. Die Stadt behandelt diesen Zipfel im Norden Brooklyns, dieses Ödland zwischen den beiden Brücken als separate Stadt, als separate Nation, und das ist es auch. Manche nennen es Vinegar Hill. Die meisten Irish Town.
In Irish Town sind alle Iren. Alle. Die meisten sind frisch angekommene Iren. Ihre genagelten Schuhe und schrägsitzenden Tweedmützen sind noch verkrustet vom Staub aus Limerick, Dublin oder Cork. Mutter und Vater wurden in Irland geboren, genau wie Daddo, aber sie alle kamen vor vielen Jahren nach Irish Town, was ihnen im Viertel ein gewisses Ansehen verleiht.
Was ihnen ebenfalls Ansehen verleiht, ist Vaters Beruf. Die meisten Väter in Irish Town arbeiten nicht, oder sie vertrinken ihren Lohn, aber Vater ist Hufschmied, ein geschickter Handwerker, der seine wöchentlichen zwölf Dollar jeden Samstag pflichtbewusst in Mutters aufgehaltene Schürze legt. Zwölf Dollar. Nie mehr, aber auch nie weniger.
Willie sieht in seinem Vater eine phantastische Anhäufung des Wörtchens
nie
. Nie verpasst er einen Arbeitstag, nie rührt er Alkohol an, nie flucht er oder erhebt im Zorn die Hand gegen seine Frau und Kinder. Er zeigt auch nie Liebe und spricht nie. Ein Wort hier, ein Wort da. Wenn überhaupt. Sein Schweigen, das ihm eine gewisse Aura verleiht, hängt offenbar mit seiner Arbeit zusammen. Wenn man elf Stunden lang mit Hammer und Amboss an der härtesten Sache der Welt geschuftet hat, was soll man da noch sagen?
Willie begleitet Vater oft in die Werkstatt, ein Holzschuppen auf einem großen Gelände, das nach Dung und Feuer riecht. Willie sieht zu, wie Vater schweißüberströmt und unermüdlich mit dem riesigen Hammer auf ein hellrot glühendes Eisenstück haut. Mit jedem Schlag, jedem metallischen Klirren wirkt Vater – nicht glücklich, aber friedvoller und befreiter. Willie fühlt sich ebenfalls befreit. Andere Väter sind betrunken, arbeitslos, nicht aber seiner. Vater ist nicht Gott, aber gottähnlich. Er ist nicht nur Willies erster Held und erstes Rätsel, er ist auch seine erste Liebe.
Willie glaubt, dass er später auch gern Hufschmied wäre. Er weiß, wenn man ein Metallstück länger macht, zieht man es, und wenn man es kürzer macht, staucht man es. Er kann den Blasebalg bedienen und die Flammen in der Feuerstelle entfachen. Wenn Vater die Hand hochhält, heißt das
Vorsicht
!, nicht zu viel. Alle paar Wochen brennt eine Schmiede ab. Dann ist der Schmied seine Arbeit los, und die Familie steht auf der Straße. Das ist die Angst, die Vater unablässig hämmern, die Sorge, die Mutter unermüdlich scheuern lässt. Ein einziger Schicksalsschlag – Feuer, Krankheit, Verletzung, Bankpanik –, und der Bordstein ist dein Kopfkissen.
Während Vater nie spricht, hört Daddo nie damit auf. Daddo sitzt in einem Schaukelstuhl am
Weitere Kostenlose Bücher