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Knapp am Herz vorbei

Knapp am Herz vorbei

Titel: Knapp am Herz vorbei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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Polara wird dunkel, nur das Armaturenbrett und Suttons glühende Zigarette leuchten. Sutton schließt die Augen. Dieser Fluss birgt viele Erinnerungen. Und Beweise. Revolver, Messer, Verkleidungen, Nummernschilder von Fluchtautos. Die Schilder wurden immer in kleine Quadrate gehämmert, bis sie die Größe von Streichholzbriefchen hatten, und dann ins Wasser geworfen. Für einige Partner war der Fluss das Letzte, was sie sahen. Oder spürten. Wir sind da, sagt Schreiber.
    Sutton öffnet die Augen. War er eingenickt? Offenbar, denn seine Zigarette ist aus. Er schaut durch die beschlagenen Fenster. Eine leblose Ecke. Fremd, lunar. Das kann sie nicht sein. Er sieht auf das Straßenschild. Gold Street. Das ist sie.
    Haben Sie hier ein Verbrechen begangen, Mr Sutton?
    In gewissem Sinne. Hier bin ich zur Welt gekommen.
    Er war nicht zur Welt gekommen, sagte Daddo immer – er war geflüchtet. Zwei Monate zu früh, mit der Nabelschnur um den Hals, hätte er eigentlich sterben müssen. Aber irgendwie tauchte am 30 . Juni 1901 William Francis Sutton jr. auf. Und jetzt taucht er aus dem Polara auf und tritt vorsichtig auf den Randstein. The Actor ist gelandet, sagt er leise. Während er die Straße entlanggeht, zieht er sein schlimmes Bein hinter sich her. Schreiber, der aus dem Polara springt und sein Notizbuch aufschlägt, folgt ihm. Mr Sutton, ist Ihre Familie, ähm, noch am Leben?
    Nein. Alle schon Staub geworden. Wobei, das stimmt nicht. In Florida habe ich eine Schwester.
    Sutton sieht sich um, dreht sich einmal im Kreis. Alles ist anders. Sogar das Licht. Wer hätte gedacht, dass sich etwas so Grundlegendes und Elementares wie Licht so sehr verändern kann? Aber Brooklyn vor sechzig Jahren, mit seinen erhöhten Gleisen und allgegenwärtigen Wäscheleinen, war eine Welt aus dichten, unterschiedlichen Schatten, in der das Licht immer blendend war.
    Das ist vorbei.
    Zumindest die Luft riecht vertraut. Wie ein in Flusswasser getauchter Spüllappen. Auch die Energie fühlt sich genauso an. Was vielleicht der Grund dafür ist, dass Sutton jetzt Stimmen hört. Damals gab es so viele Stimmen, und alle redeten auf einmal. Irgendwer rief immer nach dir, brüllte dich an, schrie dir von einer Feuerleiter oder Terrasse aus etwas zu – und alle klangen wütend. Es gab keine normalen Gespräche. Das Leben war ein einziger langer Streit. Den nie jemand gewann.
    Schreiber und Knipser stehen mit besorgten Gesichtern vor Sutton. Er sieht, dass sie mit ihm sprechen, aber er versteht sie nicht. Sie werden von den Stimmen übertönt. Alten Stimmen, lauten Stimmen, toten Stimmen. Jetzt hört er die Straßenbahnen. Das endlose Rattern bei Tag und bei Nacht macht Brooklyn erst zu Brooklyn. Los, wir fahren mit der Ratterkiste nach Coney Island, sagt Eddie immer. Natürlich ist Eddie schon lange tot, und nichts rattert mehr, was also hört Sutton da eigentlich? Er hält sich eine Hand vor den Mund. Was ist los? Liegt es am Champagner? Liegt es an seinem Bein – rattert vielleicht ein Blutgerinnsel in Richtung Gehirn? Hört er deshalb plötzlich seine Brüder, die ihn piesacken, seine Mutter, die ihn aus dem oberen Fenster ruft?
    Mr Sutton, ist alles in Ordnung?
    Sutton schließt die Augen, hebt das Gesicht zum Himmel.
    Mr Sutton?
    Komm ja schon, Mutter.
    Mr Sutton?

Drei
    Hühner, Pferde, Schweine, Ziegen, Hunde – alle laufen sie mitten auf der Gold Street herum, die keine Straße ist, sondern eine Schotterpiste. Manchmal lässt die Stadt die Straße mit Öl bespritzen, damit der Staub unten bleibt. Aber das macht sie nur zu einer öligen Schotterpiste.
    Die Jungen im Viertel sind froh, dass die Straße ungeteert ist. Die Gold Street bekam ihren Namen, weil vor langer Zeit Piraten ihre Schätze unter ihr vergraben hatten, und an Sommertagen buddeln die Jungen gern nach Dublonen.
    Da. Ein schmales Holzhaus, zwei Stockwerke hoch, wie alle in der Gold Street, nur der Kamin ist anders, nämlich schief. Willie lebt dort mit Vater, Mutter, zwei älteren Brüdern, einer älteren Schwester und seinem weißhaarigen Großvater Daddo. Das Haus ist in einem fröhlichen Gelb gestrichen, aber das ist irreführend. Es ist kein glücklicher Ort. Meistens ist es zu heiß, zu kalt, zu klein. Es gibt kein fließendes Wasser, kein Badezimmer, und in den winzigen Zimmern und schmalen Fluren hängt eine drückende Schwermut, seit Willies kleine Schwester Agnes gestorben ist. An Hirnhautentzündung. Das jedenfalls glauben die Suttons. Sie wissen es

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