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Knapp am Herz vorbei

Knapp am Herz vorbei

Titel: Knapp am Herz vorbei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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sagt er. Klar. Sicher. Wir wissen genug.
    Aber später, als sie im Bett liegen, muss Willie eines wissen. Er fragt Margaret, ob sie jemals verliebt war.
    Ja, natürlich.
    In einen Mann bei dir zu Hause?
    Ja.
    Hast du ihm weh getan?
    Ich nie jemand weh getan.
    Sie wälzt sich auf den Rücken und tritt die Decke weg. Im Schein der Straßenlampe ist ihr Körper atemberaubend. Sie könnte eine der Nymphen in Mr Untermyers Tempel sein. Seufzend setzt sie sich auf.
    Jeder liebt einen anderen, Julius. Niemand liebt den, mit dem er zusammen ist. So ist das auf der Welt. Ich weiß nicht, was Gott macht. Er gibt uns Liebe, wir sind froh, dass wir leben, und dann nimmt er sie weg. Warum tut er das? Was macht er eigentlich? Ich glaube noch an ihn. Aber er macht es schwer.
    Willie setzt sich ebenfalls auf, zündet eine Chesterfield an und reicht sie Margaret. Dann zündet er sich selbst eine an. Im Licht der Feuerzeugflamme sieht er, dass Margarets Auge viel größer ist als gestern. Und es ist trüb geworden.
    Margaret, Liebste. Du musst zum Arzt.
    Ich mag keine Ärzte.
    Niemand mag sie. Aber ich geh mit dir hin. Morgen. Ende der Diskussion.
    Er legt ihr eine Hand auf die Wange. Sie lächelt. Ja, Julius. Wie du meinst. Ich bin mit dir einig.

Zweiundzwanzig
    Für den nächsten Morgen ist ein Bankraub angesetzt. Sie gehen die Feinheiten durch, die Einzelheiten, den Fahrer. Es wird wieder Johnny Dee sein, ein alter Freund von Mad Dog. Willie mag Dee nicht. Dee sieht aus wie einer der Marx Brothers, der unwitzige, aber Willie darf sich nicht beschweren. Er und Mad Dog haben zwar eine gute Arbeitsbeziehung, aber Willie würde es Mad Dog durchaus zutrauen, dass er ihm im Falle einer Auseinandersetzung den Arm brechen würde.
    Kurz nach eins fährt Willie mit der U-Bahn von Mad Dogs Wohnung an der West Side von Manhattan nach Brooklyn zurück. Er schaut auf die Uhr. Margarets Arzttermin ist um halb drei. Es wird eng. Er sitzt, wo er immer in der U-Bahn sitzt: In der Nähe der Tür, mit dem Rücken zur Wand. Er schlägt seine Ausgabe von Sheen auf. Ein Zitat des heiligen Augustinus.
Der Büßer sollte immer trauern und sich seiner Trauer freuen.
Er liest dieselbe Zeile dreimal. Sich seiner Trauer freuen?
    Er spürt, dass ihn jemand beobachtet. Er blickt von Sheen hoch, dann schnell wieder runter.
    Nur ein junger Kerl. Anfang zwanzig, Babygesicht. Ein Pfadfindergesicht.
    Willie blickt wieder hoch, und runter. Dunkles, welliges Haar, Hakennase – so eine Nase kann einen ziemlich verunsichern. Aber gut angezogen. Wie für eine heiße Verabredung oder eine Party. Perlgrauer Anzug, gestärktes weißes Hemd, geblümte Krawatte – und blaue Wildlederschuhe. Warum trägt ein Pfadfinder blaue Wildlederschuhe?
    Weil er kein Pfadfinder sein will. Und er geht auch weder zu einer Verabredung noch zu einer Party. Er geht
nirgendwohin
. Er hat einen langweiligen Job und will nicht langweilig sein. Er will hip sein, cool. So wie alle heutzutage. Vielleicht starrt er Willie an, weil er ihn cool findet.
    Willie fährt sich mit dem Finger über den dünnen Schnurrbart, den er sich seit kurzem wachsen lässt, und versucht sich wieder auf Sheen zu konzentrieren. Es geht nicht. Er schaut ein drittes Mal auf. Diesmal treffen sich ihre Blicke – ein, zwei Sekunden –, bevor er wieder in sein Buch sieht.
Gottes Vergebung durch das Sakrament erneuert seine Freundschaft zu uns, doch die Schuld an die göttliche Gerechtigkeit bleibt bestehen
.
    Schuld? An die göttliche Gerechtigkeit? Ihm fällt ein, wie Mad Dog Schulden eintreibt. Ob Gott wohl auch einen Mad Dog hat?
    Die Augen des jungen Mannes sind ungewöhnlich dunkel, gefühlvoll. Und sie sind definitiv auf Willie gerichtet. Willie lässt den Blick vom Buch zu den blauen Wildlederschuhen schweifen und ist sich sicher, er spürt es – der Junge hat ihn erkannt. Der Junge hat Willies plastische Chirurgie, das Make-up, den Schnurrbart durchschaut. Aber wie? Meistens erkennt Willie sich morgens selbst kaum im Spiegel. Wie kann ihn ein x-beliebiger Junge in einem vollen Zug mitten an einem Montagnachmittag erkennen?
    Nun kommst du aus einem Menschengewühl.
    Willie blättert die Seite um und tut so, als wäre er in Gedanken versunken. Zum vierten Mal sieht er hoch und runter. Wie ist das möglich? Das eine Auge des Jungen ist größer als das andere. Ist da was im Umlauf, eine Epidemie der ungleichen Augäpfel?
    Der Schaffner kündigt Willies Haltestelle an. Pacific Avenue. Willie steht auf, klemmt

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